Wie bringt man Menschen mit Depressionen dazu, Sport zu treiben? Psychologen haben ein Bewegungsprogramm entwickelt, das die Wartezeit auf einen Therapieplatz erleichtern soll. Eine Teilnehmerin berichtet.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Tübingen - Als am Samstag die Läufer des Albgold-Winterlaufs in Reutlingen an den Start gingen, war eine Teilnehmerin unter ihnen, die vor wenigen Monaten noch nicht einmal Laufschuhe besessen hat. Für Carolin Riekert (30), eine Friseurin aus Kusterdingen, war Sport bisher ein Fremdwort. „Das änderte sich, als die Depressionen kamen“, erzählt sie. Was klingt wie ein Paradoxon, war glückliche Fügung: Carolin Riekert wusste erst seit Kurzem von ihrer Erkrankung, als ihr im vergangenen Sommer ein Zeitungsartikel ins Auge stach: Vorgestellt wurde ein Projekt der Tübinger Universität, das Menschen mit Depressionen, Angststörungen, Schlafproblemen oder ADHS die Wartezeit auf einen Therapieplatz erleichtern soll – mit Ausdauersport.

 

Riekert standen damals neun Monate Wartezeit bis zum Erstgespräch beim Psychotherapeuten bevor – Monate, die sich bei Depressionen wie eine Ewigkeit anfühlen und in denen das Gefühl, der Krankheit hilflos ausgeliefert zu sein, jede Zuversicht vernichtet. „Das Angebot war wie eine rettende Hand“, erinnert sich Carolin Riekert.

In der Wartezeit auf einen Therapieplatz können sich Depressionen verfestigen

Vater des sogenannten Impuls-Projektes ist der Tübinger Sportpsychologe und Verhaltenstherapeut Sebastian Wolf, der bereits vor zwei Jahren eine „Versorgungslücke“ ausmachte, wie er sagt: Zwar zeigten viele Studien, dass Ausdauersport bei Depressionen ähnlich gut zu helfen scheint wie Antidepressiva oder eine Verhaltenstherapie. „Darum steht Bewegung bei der stationären Therapie in vielen Kliniken auf dem Stundenplan.“ Im ambulanten Bereich werde davon aber noch kein Gebrauch gemacht. Und dass diese Zielgruppe Sport aus freien Stücken macht, scheint eher unwahrscheinlich. Zugleich kennt Wolf das Problem mit den Wartezeiten, in denen Depressionen sich verfestigen wenn nicht gar zur Lebensmüdigkeit führen können. Bundesweit liegt die Wartezeit laut Angaben der Bundestherapeutenkammer im Schnitt bei derzeit fünf Monaten, im Tübinger Raum sind es sogar sechs bis zwölf Monate.

Vor diesem Hintergrund hat Wolf mit Kollegen im Rahmen einer Studie ein Bewegungsprogramm entwickelt, das Wartenden die heilsame Kraft von Ausdauersport näherbringen soll. Schon bei zwei Läufen pro Woche à 30 Minuten im moderaten bis anstrengenden Intensitätsbereich können Ängste und depressive Verstimmungen nach ein paar Wochen deutlich nachlassen, zitiert Wolf im Studienexposé neuste Forschungsergebnisse. Er würde sich wünschen, dass die Krankenkassen in Zukunft ein Bewegungsprogramm für Wartende finanzieren, zumal auch die Kassen selbst davon profitieren würden, wie er glaubt: „Durch eine frühe Intervention könnten sich die anschließenden Therapiezeiten deutlich verkürzen.“

Beim ersten Treffen gibt es ein paar Laufschuhe geschenkt

Die Entwickler des Bewegungsprogramms haben sich einiges einfallen lassen, um die Teilnehmer in Schwung zu bringen: Beim ersten Gruppentreffen erhält jeder eine professionelle Laufanalyse im Sportfachgeschäft und ein passendes Paar Laufschuhe. Jeder wird mit einer Pulsuhr ausgestattet. „Das hilft gerade ängstlichen Teilnehmern, die Sorge haben, sich zu überfordern“, erklärt die Psychologin Johanna Zeibig, die am Konzept mitgearbeitet hat. Zudem finden regelmäßig Gruppengespräche statt, in denen die Teilnehmer auch geistig auf das Programm vorbereitet werden.

Die Woche darauf geht es los: Treffpunkt Neckarufer, zwei ausgebildete Gruppenleiter sind auch am Start. Carolin Riekert fährt mit Magengrimmen zum ersten Lauftreff: „Wie wird das mit all den Leuten? Stresst mich das? Und vor allem: Schaffe ich das?“ 30 Minuten Intervalllaufen stehen ihr bevor. Sie schafft das Pensum – wie bislang jeder Teilnehmer. „Ich war zwar total groggy. Aber ich war auch sehr stolz“, erinnert sie sich. „Und ich habe Leute kennengelernt, denen es ähnlich geht wie mir.“ Nur zwei Tage später findet der nächste Lauftreff statt.

Turnschuhe vor der Haustür erinnern daran, nach Feierabend laufen zu gehen

Den dritten Sporttermin dürfen die Teilnehmer selbst festlegen, ebenso wie die Sportart, die sie – ein weiteres Bonbon – auch aus einer Angebotsliste des Uni-Hochschulsports auswählen können. „Wir empfehlen lediglich, dass ein festes Datum mit Uhrzeit im Terminkalender steht“, sagt Zeibig. Auch eine Verabredung mit anderen Läufern hilft, Termine einzuhalten. Um zu verhindern, dass der Kopf dennoch Ausreden spinnt, entwerfen die Gruppenleiter mit den Teilnehmern individuelle „Wenn-dann-Pläne“: Wenn ich mich nicht motivieren kann, melde ich mich bei meiner besten Freundin. Oder: Wenn es regnet, denke ich an das gute Gefühl nach dem letzten Lauf. Hilfreich sei auch, die Laufschuhe vor die Haustür zu stellen, damit man nach der Arbeit drüber stolpert und gar nicht erst die Couch ansteuert. Nach vier Wochen laufen die Teilnehmer ohne Gruppe und Aufsicht. „Wir rufen jedoch jeden Teilnehmer ein Mal pro Woche an“, sagt Johanna Zeibig. Obwohl die Studie noch nicht beendet ist, zeigen vorläufige Ergebnisse, dass die Läufer im Vergleich zu einer Kontrollgruppe tatsächlich von den positiven Effekten profitieren.

„Schon nach drei Wochen habe ich gemerkt, dass die traurigen Phasen kürzer und nicht mehr so intensiv sind“, berichtet Riekert. Motivationsprobleme hat sie keine mehr. „Selbst wenn ich traurig bin, gehe ich laufen. Denn dann sortieren sich meine Gedanken“, beobachtet sie. „Ich habe wieder das Gefühl, mein Schicksal selbst in der Hand zu haben.“ Dass Riekert sich beim Albgold-Winterlauf angemeldet hat – eine Serie aus vier Wochenendläufen à jeweils fünf Kilometer –, zeigt, wie viel der Friseurin das neue Hobby mittlerweile bedeutet. Ihr Ziel: die fünf Kilometer in weniger als vierzig Minuten zu laufen. Sie schaffte die Strecke in 38,40 Minuten.

Teilnehmer gesucht

Kontakt: Wer Interesse daran hat, an der Impuls-Studie teilzunehmen, erhält weitere Informationen unter 0 70 71 / 1 38 95 78 oder schreibt an impuls@psycho.uni-tuebingen.de.

Forschung: Was Sport genau im Gehirn bewirkt, ist wissenschaftlich noch nicht in Gänze erforscht. Nachgewiesen ist aber, dass Sport den Blutdruck senkt, die Konzentration fördert, die Herzratenvariabilität steigert – ein Hinweis darauf, dass Stress besser verarbeitet wird – und die Stimmung durch Adrenalin-, Dopamin- und Serotoninausschüttung aufhellt. (alm)