Das volle Programm: Olympische Nachtgedanken zwischen Curling, Eiskunstlauf und einer verwirrenden Reportage über neue Strukturen im südkoreanischen Sport.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Senile Bettflüchtlinge schätzen zurzeit die bequeme Asien-Route. Die Strecke beträgt ja nur ein paar Meter – vom Schlafzimmer auf das Wohnzimmersofa, und schon ist man in Pyeongchang. Nicht mehr die ganze Nacht grübelnd an die Zimmerdecke starren, einfach Olympische Winterspiele schauen. Wer allerdings nicht an Schlafstörungen leidet, für den ist eine olympische Nachtschicht schon eine enorme Herausforderung. Doch für ein Großereignis gilt es, Opfer zu bringen, machen die Sportler und Sportlerinnen ja schließlich auch.

 

Um 2.35 Uhr geht es beim ZDF los. Rudi Cerne begrüßt einen aus dem südkoreanischen Fernsehstudio fast ein bisschen zu abgeklärt. „Liebe Zuschauer in Deutschland, guten Morgen oder gute Nacht, alles eine Frage der Perspektive.“ Ein „Ganz toll, dass Sie zu dieser hundsgemeinen Uhrzeit dabei sind“ hätte man ja schon erwarten dürfen. Zumal die Einschaltquote überschaubar sein dürfte und man so quasi unter sich ist. Humorlos leitet Cerne auf schnellstem Weg über zum Curling, so als würde er bei „Aktenzeichen XY . . . ungelöst“ den ins Fernsehbild gesetzten Überfall auf ein Juweliergeschäft in der Wiesbadener Fußgängerzone anmoderieren.

In der Eishalle nimmt einen Kommentator Martin Wolff um 2.40 Uhr in Empfang. Curling um diese Uhrzeit ist ziemlich gefährlich. Es ist vergleichbar mit dem Kaminfeuer oder mit der Panorama-Eisenbahnfahrt, mit jenen Bildern also, die die Fernsehsender früher ausgestrahlt haben, als es noch kein Rund-um-die-Uhr-Programm gegeben hat. Die sedierende Wirkung von Curling ist phänomenal, nur kommt die jetzt sehr ungelegen, im Bestreben bis zum Morgen Olympia im Fernsehen anzuschauen. Deshalb heißt es jetzt volle Konzentration auf die Frauenkonkurrenz und das dritte End in der Vorrundenpartie zwischen Großbritannien und Kanada. Nach gewissen Anlaufschwierigkeiten ist der Fernsehzuschauer jetzt aber voll dabei. Curling gewinnt mit der Dauer des Spiels.

Martin Wolff ist hörbar angetan vom Team aus Großbritannien. Gleich zweimal sagt er zu Beginn begeistert: „Das ist eine rein schottische Mannschaft.“ Und für die rutschen die Steine wie am Schnürchen. Die Schottinnen führen 2:1.

Es ist kurz vor 3 Uhr. Der Höhepunkt der Nacht kann beginnen, der Abfahrtslauf der Frauen. Was die Südkoreaner aber nicht besonders zu beeindrucken scheint. Die Tribüne hinter dem Zielraum ist um 11 Uhr Ortszeit bestenfalls zur Hälfte gefüllt. Das Wichtigste zum Rennen erfährt man auch noch schnell. Die Favoritin Lindsey Vonn ist auf der Suche nach einem Partner, der ihr irgendwann zu Bronze gratulieren könnte. Es siegt ihre italienische Freundin Sofia Goggia.

Am besten gefällt einem aber Kira Weidle, die auf Platz elf landet. Kira Weidle ist nicht nur in Stuttgart geboren und hat hier die ersten sechs Jahre ihres Lebens verbracht, sie ist auch noch freundlich. Von ihr könnte sich Rudi Cerne mal eine Scheibe abschneiden. „Vielen, vielen Dank und ganz viele Grüße an alle, die in Deutschland für mich aufgestanden sind und mir zugeschaut haben“, sagt sie und erhält vom Sofa die Antwort: „Gern geschehen und viele Grüße zurück.“

3.55 Uhr, zurück zum Curling. Die Stimmung im kanadischen Team ist in der Zwischenzeit ziemlich schlecht geworden. Ein ganz schönes Geschrei der Spielerinnen begleitet die Steine auf ihrer Rutschpartie übers Eis. So langsam erschließt sich einem auch die Anspannung im Ahornblatt-Team. Curling ist in Kanada Nationalsport, eine Million Mitglieder zählt der nationale SteinschieberVerband. In diesem Moment ist das Halbfinale für das Frauenteam nicht mehr zu erreichen. Nach der Niederlage gegen „ein rein schottisches Team“, wie Martin Wolff vorsichtshalber noch einmal betont. Auf der Tribüne sieht man einen kanadischen Fan ein Bier exen. Daneben weint eine Frau. Auch der Zuschauer in Deutschland befindet sich im emotionalen Ausnahmezustand, wird aber ganz schnell auf Normalniveau gedimmt.

4.48 Uhr, Skicross der Männer, Qualifikation. In der fahren die Männer noch allein die wilde Strecke herunter, es geht dort allein um die Zeit, die gefährlichen Gruppenrennen kommen erst später.

Grrrrrh, grrrrrh, grrrrrh. Was ist das? Hört sich an wie eine Kettensäge. Ist Timbersports schon olympisch. Nein? Es ist ein sehr entwürdigender Moment, vom eigenen Schnarchen geweckt zu werden. Der Moment für das kleine Nickerchen scheint aber gut gewählt zu sein. Im Fernsehen läuft gerade eine Reportage über die Strukturreform im südkoreanischen Sport. Zentralisierung ist offenbar das Zauberwort. Man sieht eine Hochhaussiedlung, in der 1100 Athletinnen und Athleten aus den verschiedensten Disziplinen zusammen leben und trainieren. Gleichzeitig stellt sich heraus, dass das Nickerchen doch ein ausgewachsener Nicker gewesen ist.

Schon 6.40 Uhr, Eiskunstlauf der Frauen, Kurzprogramm. Das weckt immer Erinnerungen. Die Gedanken machen Toeloops und landen bei Denise Biellmann. Die Schweizerin wurde 1981 Weltmeisterin. Besonders beeindruckend ihre Pirouette. Weil einem selbst die Worte dafür fehlen, wird an dieser Stelle zur Erklärung Wikipedia zu Hilfe genommen. Dort heißt es: „Man beginnt mit der aufrechten Pirouette, streckt sich nach hinten über die Schulter, fasst die Kufe des freien Fußes und dehnt sich in Richtung Decke aus (der Körper bleibt aufrecht).“ Trotz aller Bewunderung, ein bisschen böse ist man Denise Biellmann heute noch. Sie hat einen damals in die außergewöhnlich unlustige Kinokomödie „Piratensender Powerplay“ gelockt, in der sie an der Seite von Thomas Gottschalk und Mike Krüger zu sehen war.

Zurück in die Gegenwart des Eiskunstlaufs. Die Südtirolerin Carolina Kostner muss sich mit der Hand auf dem Eis abstützen. Goldtraum geplatzt. Schade.

7.15 Uhr. Im ersten Eishockey-Viertelfinale spielen die USA gegen Tschechien, ganz ohne NHL-Profis. Es wird dramatisch. 2:2 steht es auch nach Verlängerung. Penaltyschießen. Nur Petr Koukal trifft und schießt Tschechien ins Halbfinale. Geschafft. Die Sonne geht auf. Von jetzt an gehört nicht mehr viel dazu, die Olympischen Winterspiele zu schauen.