Sklavenarbeit als Wirtschaftskraft: Mit dem Doku-Dreiteiler „Gulag“ erzählt der Sender Arte die Geschichte des sowjetischen Lagersystems.

Stuttgart - Achtzehn Monate lang schufteten 120 000 Zwangsarbeiter um den 227 Kilometer langen Weißmeer-Ostsee-Kanal zu errichten. Jeder Zehnte kam ums Leben, die Leichen ließ man einfach in Schnee und Eis liegen. Einer der überlebenden Häftlinge erinnert sich, dass bei Tauwetter nach und nach die Gliedmaßen der Toten wieder ans Tageslicht kamen. Im Mai 1933 weihte Stalin den Kanal ein, der allerdings weniger Tiefgang hatte als geplant und deshalb kaum genutzt werden konnte.

 

Sklavenarbeit als Wirtschaftskraft

Ein anderes, ebenso mörderisches Projekt war die Polarkreis-Eisenbahn, deren Bau im März 1953 nach sechs Jahren der Plackerei unvollendet abgebrochen wurde. In der Region um das von Häftlingen aus dem Boden gestampfte sibirische Workuta wurde Kohle gefördert, im entlegenen Kolyma die Hälfte der jährlichen Goldvorkommen der gesamten UdSSR – mehr als fünfzig Tonnen. Die Bodenschätze wurden auf einer von Häftlingen gebauten Straße ins Riesenreich transportiert, die wegen der zahlreichen Todesopfer unter ihnen auch „Knochenstraße“ genannt wird.

Natürlich ging es darum, die Macht zu sichern, Angst zu verbreiten, politische Gegner auszuschalten, aber: Die Sowjetunion, gegründet auf kommunistischen Idealen, schöpfte enorme Wirtschaftskraft aus Sklavenarbeit. Darauf insbesondere zielt die dreiteilige Dokumentation „Gulag“ (3 Folgen, Arte, 11. Februar, ab 20.15 Uhr) des französischen Autors Patrick Rotman ab. In vierzig Jahren seien mehr als 20 Millionen unschuldiger Menschen in nahezu 500 Arbeits- und Straflagern interniert gewesen, heißt es in der von Arte France in Auftrag gegebenen Produktion, die der Sender komplett an einem Abend ausstrahlt. In knapp drei Stunden schildert Rotman die Entwicklung des Systems von den Anfängen direkt nach der Oktoberrevolution bis zur Freilassung der meisten Gefangenen unter Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow ab 1956. Die Standorte der Lager entsprachen den Standorten der großen Baustellen, auf denen Stalin den Ausbau der Infrastruktur und die Industrialisierung des Landes vorantreiben ließ.

Tage des „Großen Terrors“

Die Häftlinge mussten oft unerreichbare Arbeitsnormen erfüllen, aber an menschlichem Nachschub mangelte es ja nicht. Rotman konnte auf Zeitzeugen-Interviews zurückgreifen, die die einst von Andrei Sacharow gegründete Nichtregierungsorganisation Memorial führte: Man sieht alt gewordene, vom Leben gezeichnete Frauen und Männer, die sich an ihre Lager-Jahre erinnern, an den Hunger, die schwere Arbeit, die Folter, die sexuelle Ausbeutung der Frauen, die Hinrichtungen.

Oder sie denken an jenen Tag zurück, als ihre Mütter und Väter in den Tagen des „Großen Terrors“ 1937/38 abgeholt wurden. 1,5 Millionen Menschen wurden in jener Zeit in den Gulag verfrachtet. Bald kamen Verschleppte aus den besetzten polnischen Gebieten hinzu, darunter viele Juden, und später deutsche Kriegsgefangene. Ende der 1940er Jahre erreichte das Lagersystem mit 2,75 Millionen Häftlingen sein größtes Ausmaß, weitere knapp drei Millionen Menschen waren in „Sondersiedlungen“ verbannt worden.

Das „sowjetische KZ-System“

Rotman spricht vom „sowjetischen KZ-System“, und tatsächlich drängen sich manche Parallelen zwischen dem vom NKWD, dem Innenministerium der UdSSR, organisierten „Staat im Staat“ (Rotman) und dem deutschen „SS-Staat“ (Eugen Kogon) auf. Aber auf einen Vergleich, geschweige denn auf eine Gleichsetzung mit der Rassenideologie und der Vernichtungspolitik der Nazis lässt sich der Autor gar nicht erst ein. Wohl aber erinnert er daran, dass die westeuropäische Linke die in der Sowjetunion begangenen Verbrechen lange nicht wahrhaben wollte. Insbesondere in Frankreich, wo die Kommunistische Partei bei Wahlen bis zu 25 Prozent der Stimmen erhielt.

Immens und eindrucksvoll ist die Fülle der Archivbilder, die von den archaischen Arbeitsbedingungen und dem extrem harten Alltag künden. Aber woher stammen sie? Dass die Filmaufnahmen in der Regel der Propaganda dienten, wird nur unzureichend deutlich, auch wenn der Kommentar ab und zu darauf hinweist. Den Ausdruck „Volkszorn“ zu übernehmen, der sich angeblich gegen Beschuldigte gerichtet habe, ist sogar erstaunlich fahrlässig. Filmaufnahmen von möglicherweise organisierten Aufmärschen können jedenfalls kaum als Beleg dienen.