Vor 25 Jahren endete mit der Aussstrahlung der letzten „Twin Peaks“- Episode eines der aufregendesten Kapitel in der Geschichte der TV-Serien. In einem Buch, das am 7. September erscheint, erklärt unser Autor die Faszination der Serie, die 2017 ins Fernsehen zurückkehrt.

Freizeit & Unterhaltung : Gunther Reinhardt (gun)

Stuttgart - An einem diesig-tristen Februarmorgen finden sie sie am Flussufer – mit Sandkrümeln in den Haaren, eisblau verfärbten Lippen, in eine Plastikfolie verpackt und auch als Leiche immer noch unerhört schön. Der Mord an der Schülerin Laura Palmer wird nicht nur das Leben im idyllisch von Wäldern umgebenen Kaff Twin Peaks im Norden der USA aus dem Gleichgewicht bringen. Er wird auch die Fernsehwelt, wie man sie bis dahin kannte, erschüttern.

 

Wer schon vor „Twin Peaks“ viel Zeit vor dem Fernseher mit TV-Serien verplempert hat, tat das stets mit einem ausgesprochen schlechten Gewissen. Schließlich hätte man stattdessen auch ein Buch lesen, das Geschirr spülen, die Psychologie-Hausarbeit schreiben oder wenigstens ins Kino gehen können, um sich einen Film von Jim Jarmusch, Peter Greenaway oder Woody Allen anzuschauen. Alles wäre auf jeden Fall sinn- und anspruchsvoller gewesen als seine Zeit mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Baywatch“, „Agentin mit Herz“, „Remington Steel“ oder „Trio mit vier Fäusten“ und all den anderen Serien zu vertun, die die 1980er Jahre und die noch ziemlich neue Vielfalt der Privatfernsehwelt damals zu bieten hatten. Doch dann kamen die 1990er Jahre, David Lynch, Mark Frost und „Twin Peaks“ – und alles wurde gut.

FBI-Agent Dale Cooper schwärmt vom Kirschkuchen und von Douglas-Tannen

Die Serie erzählt von Special Agent Dale Cooper, den das FBI nach Twin Peaks schickt, um den Mord an Laura Palmer aufzuklären. Der adrett-skurrile Ermittler verliebt sich in diese Landschaft, diese Kleinstadt, diese Menschen. Er schwärmt vom Kirschkuchen, vom schwarzen Kaffee, von den Douglas-Tannen, protokolliert seine Anfälle kindlicher Entzückung in den für eine gewisse Diane bestimmten Diktiergerät-Monologen. Und er findet heraus, dass im beschaulichen Twin Peaks nichts so ist, wie es scheint. Er träumt von Zwergen und Riesen, wird angeschossen und suspendiert, legt sich mit Dämonen an, und ist am Ende nicht mehr der, der er bei seiner Ankunft war. In Twin Peaks beginnt für Dale Cooper eine Reise ins Herz der Finsternis.

Und für das Fernsehen ein neues Zeitalter. Auf einmal gibt es eine Serie, die man verschlingen kann, ohne sich zu schämen, Fernsehen ist kein „guilty pleasure“ mehr. Mit „Twin Peaks“ bekommt man eine Serie geliefert, über die man als Geisteswissenschaftler in der Uni-Mensa – und bald sogar in den Seminaren selbst – fachsimpeln kann, ohne sich als Kulturmuffel zu outen.

„Harry, ich habe keine Ahnung, wohin uns das führen wird, aber ich habe das bestimmte Gefühl, dass es ein Platz sein wird, der sowohl wunderbar und seltsam ist“, sagt der von Kyle MacLachlan gespielte Agent Cooper zum örtlichen Sheriff, als die Ermittlungen wieder einmal eine kuriose Wendung nehmen – und tatsächlich erweist sich die Serie als eine wundersam-schöne Reise ins Unbekannte. David Lynch und Mark Frost erschließen mit „Twin Peaks“ (1990–1991) neues Terrain, machen einen Genremix sendefähig, der Drama, Mystery, Krimi und Soap Opera vermengt und bis heute Vorbild für Serienerzählungen des Qualitätsfernsehens ist.

Ein Autorenfilmer macht Fernsehen – damals ein Skandal

Bevor am 8. April 1990 im US-amerikanischen Fernsehen der Pilotfilm ausgestrahlt wird, sind Serien in erster Linie ein Wegwerfprodukt, das TV-Pendant zum Fast Food, möglichst billig produziert, ohne wirklichen künstlerischen Anspruch. Fernsehen taugt bestenfalls angehenden Regisseuren als Karrieresprungbrett. Dass ein etablierter Filmemacher wie David Lynch, der spätestens seit „Blue Velvet“ (1986) Kultstatus erlangt hat und im Mai 1990 dann auch noch in Cannes für „Wild At Heart“ die Goldene Palme gewinnt, das Fernsehen als kreative Spielwiese nutzt, ist damals eine unerhörter Einfall – für die einen ein Skandal, für die anderen eine Sensation.

Und viele sind seither David Lynchs Vorbild gefolgt – Regisseure wie Martin Scorsese („Boardwalk Empire“), Steven Spielberg („Band Of Brothers“), David Fincher („House Of Cards“), Steven Soderbergh („The Knick“), Jane Campion („Top Of The Lake“), Guillermo del Toro („The Strain“) oder Woody Allen („Crisis In Six Scenes“), aber auch Oscar-prämierte Hollywoodstars wie Maggie Smith („Downton Abbey“), Matthew McConaughey („True Detective“), Anjelica Huston („Smash“), Dustin Hoffman („Luck“), Anna Paquin („True Blood“), Jeremy Irons („The Borgias“), Jessica Lange („American Horror Story“), Timothy Hutton („Leverage“) oder Kathy Bates („Harry’s Law“).

TV-Serien unterscheiden sich heute in Sachen Qualitätsanspruch und Produktionskosten oft kaum noch von Kinofilmen. Obwohl „Twin Peaks“ am Ende der Feigheit der Senderbosse zum Opfer fiel, so haben Lynch und Frost doch den Weg für künftige Produktionen geebnet. Sie haben nicht nur eine neue TV-Ästhetik, sondern auch mit langen, verworrenen Erzählsträngen und vielschichtigen Charakteren eine TV-Ideologie etabliert, die Serien als die Romane des 21. Jahrhunderts versteht.

David Lynch hält Laura Palmers Versprechen

Das neue goldene Zeitalter der Fernsehserien ist allerdings ohne Lynch angebrochen. Seit im Jahr 2006 sein verdrehter Thriller „Inland Empire“ floppte, hat David Lynch nicht mehr Regie geführt. Der visionäre Filmemacher, der immerhin viermal für einen Oscar nominiert war, verdingt sich stattdessen lieber als Multimediakünstler. 2013 hat er zum Beispiel das Popalbum „The Big Dream“ veröffentlicht, auf dem sich morbide Balladen in dunkelrote Farben hüllen, in Zeitlupe durch eine wattierte Traumwelt schleichen, sich in surreale Dramen verirren, die von Sehnsucht und Verlangen, von Tod und Teufel erzählen. Die Songs auf dem Album unterscheiden sich damit eigentlich kein bisschen von den filmischen Entwürfen David Lynchs. Auch weil es kaum einen Song auf dem Album gibt, in dem nicht geträumt wird – etwa im Bonustrack „I’m Waiting Here“ mit Lykke Li („I Follow Rivers“) als Gastsängerin. Der mit geisterhaften Uhs verzierte Walzer hätte auch ausgezeichnet auf den Soundtrack von „Twin Peaks“ gepasst, erinnert an die Zeiten als einen noch Julee Cruise in Angelo Badalamentis Kompositionen in einen unruhigen, fiebrigen Schlaf sang. Aber das liegt nun schon ein Vierteljahrhundert zurück.

Doch David Lynch hält das Versprechen, dass er Laura Palmer den „Twin Peaks“-Fans damals in einer „Twin Peaks“-Traumsequenz geben ließ: „I will see you again in 25 years“ – In 25 Jahren sehen wir uns wieder. Eigentlich sollte die dritte „Twin Peaks“-Staffel schon im Winter des Jahres 2016 ausgestrahlt werden. Doch Auseinandersetzungen zwischen David Lynch und dem Sender Showtime haben die Arbeiten verzögert. Nun ist die Ausstrahlung im Frühjahr 2017 geplant.

Die Reise soll noch tiefer ins Herz der Finsternis führen

Neben Mark Frost und David Lynch macht auch Angelo Badalamenti wieder mit. Seit November 2015 twittert Kyle MacLachlan regelmäßig vom „Twin Peaks“-Set. Es gibt also ein Wiedersehen mit Special Agent Dale Cooper. Außerdem sollen dabei sein: Sherilyn Fenn als Audrey Horne, Dana Ashbrook als Bobby Briggs, Mädchen Amick als Shelly Johnson, Miguel Ferrer als Agent Albert Rosenfeld, Al Strobel als Phillip Gerard und Kimmy Robertson als Lucy Moran. Auch Sheryl Lee (Laura Palmer) und Ray Wise (Leland Palmer), deren Charaktere ja eigentlich schon in der ersten und zweiten Staffel gestorben sind, gehören zum Cast. Neuzugänge sind Jennifer Jason Leigh, Amanda Seyfried, Balthazar Getty, Robert Knepper und Peter Sarsgaard. Fehlen werden die verstorbenen Catherine Coulson (Log Lady), Jack Nance (Pete Martell), Don S. Davis (Major Briggs) und Frank Silva (Bob). Abgesagt hat Michael Ontkean (Harry S. Truman), Gerüchten zufolge soll Robert Forster der neue Sheriff von Twin Peaks werden.

Schon vor 25 Jahren hatten Mark Frost und David Lynch grob skizziert, was in der dritten Staffel passieren könnte. „In der dritten Staffeln wären wir noch tiefer ins Herz der Finsternis vorgedrungen“, sagt Frost, „wir hätten uns damit beschäftigt, was mit Cooper passiert ist, mit diesem Kerl, der die Personifikation der hellen Seite der Dinge ist und der nun mit seinen inneren Dämonen kämpfen muss. Ich war sehr enttäuscht, dass wir nie die Chance bekamen, das zu tun.“ Jetzt bekommen Frost und Lynch diese Chance. Doch die Erwartungen sind hoch, der Druck ist groß: „Viele sagen, wenn sie auf ,Twin Peaks‘ zurückblicken, dass das die Explosion des hochwertigen Fernsehdramas ausgelöst hat“, sagt Frost: „Aber damals gab es nur die drei großen Networks. Die Herausforderung für uns ist jetzt zurückzukommen und genau wie damals einmal mehr die Latte höher zu legen.“

Doch wohin auch immer die Reise diesmal gehen wird, man darf sich sicher sein, dass sie wieder an einen Ort führen wird, der wunderbar und seltsam zugleich ist.

Gunther Reinhardt: Twin Peaks. 100 Seiten. Reclam Verlag, Stuttgart. 100 Seiten. 10 Euro. Erscheinungstermin: 7. September 2016.

Gunther Reinhardt ist stellvertretender Leiter des Kulturressorts der Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten Mit der neuen Reihe „100 Seiten“ will der Reclam Verlag mit unterhaltsam geschriebenen, modern gestalteten Büchern zu aktuellen Themen einen schnellen Überblick bieten.
Weitere Autoren sind zum Beispiel Dietmar Dath („Superhelden“), Albert Zink („Ötzi“), Christian Grawe („Jane Austen“) oder Jürg Dündling („Asterix“).