Udo Lindenberg, gerade siebzig, kommt mit seiner neuen Platte nach Stuttgart. Bevor an diesem Freitag die Stadiontournee in Gelsenkirchen startet, hat er auf See geprobt.

Stuttgart - Kurz nach Erscheinen seines neuen Albums liegt der einflussreichste Rockstar Deutschlands irgendwo zwischen Malaga und Lissabon bäuchlings auf der Bühne. Aber das Hämmern aus der Horizontalen gehört zur Show, mit der sich Udo Lindenberg im ausverkauften Theater des mit 2500 seiner Fans voll besetzten Kreuzfahrtschiffes „Mein Schiff 3“ für seine bevorstehende Stadiontournee aufwärmt. Lindenberg springt behände auf, tänzelt und schleudert die letzten Takte seines Songs „Honky Tonky Show“ heraus, in dem von „wildem, animalischem Rock“ die Rede ist. Er wirkt jetzt so cool wie in seinen locker hingeworfenen Selbstporträts mit Eierlikör und in den Comicskizzen mit Hut, die überall an Bord den Schriftzug „Rockliner“ ergänzen, für den er die Markenrechte besitzt. Diese Coolness ist angeboren, aber obendrein harte Arbeit.

 

Mit seiner Unterlippe entwirft er fünf Stunden vor seiner perfekt inszenierten Bauchlandung – unter Zuhilfenahme eines geschnorrten Kaugummis – fortwährend Mundinstallationen, die man auch als Grundrisse für fantasievolle Balkone einer Außenkabine verstehen könnte. Aber man darf sich von dieser scheinbar anlasslosen Lippengymnastik – mit oder ohne Ton – nicht täuschen lassen: Udo Lindenberg ist sogar beim Soundcheck hellwach, ausgestattet mit einem sensiblen Sensorium: „Jede Show kann die letzte sein“, singt er in „Eldorado“, einer seiner bewegenden neuen Balladen, als einer seiner drei Keyboarder kurzzeitig Intensität mit Lautstärke verwechselt: „Das kannste ruhig bisschen versonnener spielen“, empfiehlt ihm Lindenberg freundlich, „nicht so reinknallen! Schumann und so.“ Jeder Ton ist ihm wichtig, weil es ihm manchmal gelingt, in nur vier unvergleichlich lässig aneinandergehefteten Takten die Genialität des Künstlers Udo Lindenberg zu belegen und gleichzeitig auf den Punkt zu bringen, wie er das Dasein sieht. Einer dieser Refrains geht so: „Nimm dir das Leben / und lass es nicht mehr los / denn alles, was du hast / ist dieses eine bloß.“

Wie sehr er tatsächlich nach dieser Maxime lebt, die er selbst „ Lindiismus“ nennt, merkt man sofort, wenn man seine Suite betritt. Da steht er unter seinem Hut und liebkost mit den Fingern eine Zigarre aus seinem unerschöpflichen Vorrat. Dann nuschelt er vor sich hin, dass der Tabak Grünzeug sei, zwar von der Sonne gebräunt, aber sonst wie Salat: „Andere trinken ihre Smoothies, und ich rauche meine Zigarren.“ Er ruft Richtung Bodyguards nach dem „Flammenwerfer“, bittet des Rauches wegen an die Balkontür, freut sich an den Delfinen im Meer und liefert allerhand Anhaltspunkte dafür, weshalb man ihn wahrscheinlich einen Perfektionisten nennen darf, auch wenn das angesichts seiner Vita abstrus klingt: „Ich muss mich vor meinen Eltern und irgendwelchen höheren Geistern und Göttern verneigen, von denen ich mein Talent habe. Ich bin gewissermaßen beauftragt, dieses Talent in höchster Form auf die Bühne und die Platte zu bringen. Ich kann das nicht so wegschludern.“

Er hat die Freiheit gewonnen

Das hat er sich überlegt, als er 2006, kurz nach dem Tod seines Bruders, mit der „Sauferei“, die er auch „Ballerei“ nennt, aufhörte. Was er sich auch überlegt hat, war, was er dabei gewinnen könnte. „Erst mal das Überleben“, sagt Udo Lindenberg. Zweitens: „Du gewinnst dich selber als Bühnenfigur und kristallklarer Schreiber wieder.“ Drittens schließlich: „Du gewinnst die Freiheit wieder. Am Amazonas oder irgendwo kannste ohne Notarzt locker durch den Dschungel streifen und Abenteurer werden – Tropenhelm und so.“ Wer ihn in den Jahren vor seinem Entschluss, das Alkoholiker-Dasein zu beenden, erlebt hat, musste sich eher Sorgen machen, ob er es von der Garderobe auf die Bühne schafft: „Ich lag als fetter, schwitzender Rudi Ratlos kotzend in irgendeiner Ecke.“ Ende des ersten Aktes in Lindenbergs Leben.

Der Anfang war erfreulicher: „Ich hab’ mit zwölf gedacht, ich werde ein weltberühmter Trommler. Oder Seefahrer.“ Mit 15 haute er aus dem Städtchen Gronau ab, in dem er am 17. Mai 1946 geboren worden ist und in dem heute ein Denkmal von ihm steht, auf das er mächtig stolz ist. Erst ging’s als Kellnerlehrling nach Düsseldorf, bald darauf zum Trommeln in einen US-Club nach Libyen. In den Siebzigern brillierte er zunächst als Schlagzeugvirtuose, ehe er sich als erster deutschsprachiger Rockstar neu erfand. Damals löste er in seinem Song „Cello“ die Grenzen zwischen Unterhaltung und Ernst in Sehnsuchts-Säure auf. In den Achtzigern mutierte er zur Identifikationsfigur des widerständigen Teils eines fetter werdenden Deutschlands und wurde zugleich zum Kasperl der Vielfraße: „Wo ich hinkomme, gerät Deutschland in eine angenehm lockere Schräglage“, sagt Udo Lindenberg, dessen „Sonderzug nach Pankow“ im Nachhinein als Soundtrack zum Mauerfall passte. In den Neunzigern kippte das Land, und sein Sänger Lindenberg stürzte ab. „Mit 50 war ich näher am Tod als jetzt“, konstatiert er, während die Delfine springen. Auf seinem neuen Album klingt diese Volte gegen den gewöhnlichen Rock-’n’-Roll-Niedergang, in dem auf die großen Hallen die Bierzelte folgen und auf die Baumarkt-Eröffnungen das Grab, verblüffend logisch: „20 Jahre Suff und weg / dann war er ready für sein Comeback.“

Sein Comeback-Album anno 2008 hieß „Stark wie zwei”: Seine erste Platte überhaupt, die es an die Spitze der Charts schaffte, versprühte eine Präsenz und Inspiriertheit, die ihm kaum noch jemand zugetraut hatte. Dieses starke Werk wollte er nun, acht Jahre später, noch übertreffen.

Cool und emotional zugleich

Es ist ihm gelungen. „Stärker als die Zeit“ ist musikalisch organisch, textlich brillant, stimmlich beeindruckend schwere See. So klingt es wohl, wenn ein glücklich Reanimierter virtuos mit seinen Erfahrungen als Sterbender jongliert: „Die Stimme, in die ich viel investiert habe – Whisky und so und Zigarren –, ist jetzt da, wo ich sie haben wollte“, sagt Udo Lindenberg. „Stärker als die Zeit“ ist einer der schönsten Beweise der letzten Jahre dafür, dass Coolness unglaublich emotional sein kann und Gefühl irre cool. „Ich bin auch deswegen bisschen cool, um meine geschundene sensible Seele zu schützen“, sagt Lindenberg, während er sich so raumgreifend in ein Ledersofa fläzt, wie sich ein betrunkener Bildhauer vielleicht einen Rockstar am Zenit vorstellt. Man plaudert jetzt in der Raucherlounge weiter, fünf Decks unter Lindenbergs Suite.

Ortswechsel von Udo Lindenberg auf seinem Rockliner erfordern ausgeklügelte Expeditionen im verborgenen Bauch seines Schiffes. Ständig wird er von drei Bodyguards begleitet, einer von ihnen fungiert auch als Schultermasseur vor der Show und als Fußkneter danach. Dazu eine Produktionsassistentin mit Walkie-Talkie, seine persönliche Stylistin, die er „Zarin“ nennt und die ihm die Jacke abnimmt, sowie Tine, die ihn liebt und unablässig fotografiert. Udo Lindenberg liebt seine Reisegruppe, die er „Panik-Familie“ nennt, 150 Leute sind das auf Tournee, darunter eine Wahnsinnsgitarristin und ein Kraftbassist, die jeweils nur für zwei, drei Songs eingewechselt werden, aber dann explodieren im Lindenberg-Sog. Wer Udo Lindenberg begegnet und ein Herz hat, möchte unweigerlich Teil seiner sympathischen Bewegung werden, möchte mitreisen: „Das ist die Odyssee, Odyssee, und keiner weiß, wohin die Reise geht“, peitscht es beim Opener seines neuen Tourprogramms, das im 1000-Plätze-Theater seines Schiffs eine grandiose Uraufführung erlebt.

Musikalisch bannen Udo Lindenberg und sein vielköpfiges Panikorchester mit entschlossener Intensität: Die Balladen schabt sich Lindenberg noch ein bisschen eindringlicher als früher von der Seele, bei den Krachern verausgaben sich der Meister der Lässigkeit und seine Mannschaft noch ein bisschen mehr. Lindenberg beherrscht die seltene Kunst, seine Lebensgeschichte so selbstverständlich in einen Moment zu gießen, dass dieser Augenblick für seine Fans zum nachhaltigen Ereignis wird. Er ist ein Versprechen gegen die Trostlosigkeit: „Macht mir ’nen Sternenhimmel mit euren Handys“, ruft dieser zeitlose Romantiker, ehe grüne Marsmännchen auf seine Bühne schweben, Bikini-Krankenschwestern tanzen und der Meister selbst zappelnd unter seinem Hut den überaus lebendigen Musiker Udo Lindenberg mit der Legende dieses Namens verschmelzen lässt: Optisch bildet diese pralle Rockrevue eine Art Abenteuerspielplatz für abdriftende Astronauten ab, doch Lindenberg macht Halligalli mit Haltung – auch politisch. Denn einen ihrer berührendsten Momente erlebt die Show in der 35 Jahre alten Antikriegsballade „Wozu sind Kriege da?“. Da geht dieser fauchende, raunende, raspelnde und rumpelnde Selfmade-Sänger in einer Mission auf, die größer ist als er selbst.

Textentwürfe auf Bierdeckeln

Auch auf seinem neuen Album „Stärker als die Zeit“, das sich viel echtes Pathos leisten kann, weil es stellenweise schier birst vor Ironie, arbeitet sich Lindenberg auf Platz eins der Charts mit aller Dringlichkeit an seinem politischen Lebensthema ab: „Kriege werden inszeniert / wie Theaterstücke aufgeführt“, singt er im Lied „Kosmosliebe“, und wenn man ihn auf seine Mission anspricht, dann nimmt er die Sonnenbrille ab, sieht einem in die Augen und sagt: „Wir sind nicht nur Entertainer. Es ist eine ganz edle Berufung, der wir nachgehen. Wir machen Musik, die ist unterhaltsam, klar, da ist Action und Hoch-die-Tassen und Showtime und so. Aber wir tragen auch das Feuer. Das Feuer des Widerstands und der alternativen Weltmodelle, die durchdacht wurden, aber eben noch nicht umgesetzt.“

Er will weiter kämpfen, weiter feiern, weiter lieben: „Ich glaub’, ich krieg’ noch 30 Jahre hin“, sagt Udo Lindenberg, der an seine „vorteilhafte Genetik“ glaubt, seitdem er indonesische Vorfahren mütterlicherseits geortet und die Heimat seiner Ahnen besucht hat. Er beschwört das Rebellenblut in seinen Adern, schreibt seine Textentwürfe immer noch am liebsten auf Bierdeckeln im Bahnhofsimbiss, nennt sich selbst „Straßenratte“ und pocht auf seine Individualität. „Ich war immer mehr so’n Anarcho, der sich seine eigenen Gesetze ready macht“, erzählt der Mann, der einst die „Bunte Republik Deutschland“ ausrief. Auf seinem neuen Album prophezeit er augenzwinkernd eine von Weinkrämpfen geschüttelte Kanzlerin im Falle des eigenen Ablebens: „Ich hasse Leute mit ’nem Größenknall“, sagt er, „Aber wenn sie charmant behaupten, dass sie ein Flugzeug erfinden, das schon in drei Jahren zum Mars fliegt, dann ist mir das sehr sympathisch.“ Er uns auch.

Tour Am 28. Mai spielt Udo Lindenberg in der Stuttgarter Mercedes-Benz-Arena. Am 30. Juli gastiert er unplugged in Calw – im Rahmen der Verleihung des von ihm gestifteten Panik-Preises für Songwritererer.