Bisher galt die Landwirtschaft als Hauptursache bei der Überdüngung von Flüssen. Neue Erkenntnisse aus Hessen zeigen nun, dass Kläranlagen die größte Rolle spielen. Müssen Bund und Länder umdenken?

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Bei der Überdüngung von Fließgewässern spielt die Landwirtschaft möglicherweise eine sehr viel geringere Rolle als bisher angenommen. Darauf deuten neue Erkenntnisse aus Hessen hin, die derzeit unter den Bundesländern diskutiert werden. Der Eintrag von Phosphor in Flüsse und Bäche stammt danach „weit überwiegend“ aus kommunalen Kläranlagen. Dagegen ist der Anteil der bisher als Hauptverursacher angesehenen Bauern „relativ gering“. Entsprechende Informationen unserer Zeitung bestätigte ein Sprecher des hessischen Umweltministeriums.

 

Die Phosphor-Belastung deutscher Flüsse ist in den vergangenen Jahrzehnten zwar gesunken, aber immer noch hoch. An zwei Dritteln aller Messstellen werden laut Umweltbundesamt überhöhte Konzentrationen festgestellt. Algen und Wasserpflanzen können durch die „Eutrophierung“ übermäßig wachsen, zu Lasten von anderen Pflanzen und von Tieren. Dies gilt als einer der Gründe, warum der gesetzlich geforderte „gute ökologische Zustand“ der Gewässer oft noch nicht erreicht ist. Die Bundesregierung dringt darauf, dass spätestens bis 2030 überall die Orientierungswerte für Phosphor eingehalten werden. Phosphor und Phosphate werden als Dünger eingesetzt, aber auch zur Konservierung in Lebensmitteln.

Messungen statt Modellrechnungen

Der Bund und einzelne Bundesländer versuchen laut dem hessischen Ministeriumssprecher seit Jahren, die Bedeutung einzelner Eintragsquellen über Modellrechnungen zu quantifizieren. Auf dieser Grundlage hoffe man, „zielgerichtet Maßnahmen ergreifen zu können“. Die neuen Ergebnisse aus Hessen basieren dagegen auf konkreten Messungen, die von Experten des Landesumweltamtes ausgewertet wurden. Nicht die Landwirtschaft, sondern die Kläranlagen sind danach mit Abstand die wichtigste Phosphor-Quelle. Der gegenteilige Befund der Modellrechnungen beruht aus Sicht der Experten auf methodischen Fehlern.

Der Deutsche Bauernverband begrüßte die neuen Erkenntnisse aus Hessen. Diese zeigten, dass der Anteil der Kläranlagen bisher „deutlich unterschätzt“ worden sei, teilte ein Sprecher mit. Für den vom Baden-Württemberger Joachim Rukwied geführten Verband hat die Wende in der Debatte grundsätzliche Bedeutung: Es zeige sich, „dass reflexartige Schuldzuweisungen bei Verfehlungen von Umweltnormen Richtung Landwirtschaft nicht zielführend sind, sondern einer genauen Überprüfung bedürfen“. Nun müsse geprüft werden, ob sich die Ergebnisse auch in anderen Bundesländern bestätigten.

Erkenntnisse nur begrenzt übertragbar?

Ein Sprecher des Stuttgarter Umweltressorts sagte jedoch, die Erkenntnisse ließen sich „nur begrenzt übertragen“. Er verteidigte er die bisher angewandten Modellrechnungen. Man werde die neuen Erkenntnisse aber in einer Arbeitsgruppe von Bund und Ländern berücksichtigen.