Der ehemalige Radprofi Jan Ullrich gibt zu, gedopt zu haben. Reue zeigt der 39-Jährige allerdings keine. Er habe nur für Chancengleichheit sorgen wollen, sagt er.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Die Zahl der Schulterklopfer ist übersichtlich. Einer heißt Lance Armstrong, wohnhaft in Austin, Texas, und hat siebenmal die Tour de France gewonnen, allerdings inoffiziell, weil ihm die Siege wegen Dopings aberkannt wurden. Jedenfalls, Armstrong preist Jan Ullrich nach dessen Doping-Mini-Coming-Out im „Focus“: „Jan Ullrich? Ein warmherziger Mensch, ein erstaunlicher Athlet, ein großartiger Wettkämpfer. Ich habe es geliebt, gemeinsam mir Dir den Ton anzugeben, mein Freund.“

 

Die Töne aus Deutschland sind andere. Sie klingen frustriert, wütend, enttäuscht. Es ist ja nicht so, dass es Zweifel am Doping des Jan Ullrich gegeben hat, im Grunde warteten alle nur darauf, es so auch aus seinem Munde zu hören. Doch das, was er jetzt sagte, war nicht ganz das, was alle gerne hören wollten. „Ja, ich habe Fuentes-Behandlungen in Anspruch genommen“, sagte der 39-Jährige. Er habe aber keine anderen Dopingmittel verwendet als sein eigenes Blut. Kein Wort zu Strukturen oder Hintermännern, geschweige denn ein Ausdruck des Bedauerns. Antidopingkämpfer Werner Franke nennt die Aussagen einen „Europarekord im Lügen“.

Ullrichs Beichte ist kein Paukenschlag

In den vergangenen Monaten hatte der Toursieger von 1997 viele Andeutungen gemacht, und es schien so, als wollte er den finalen Akt dieses seit 2006 andauernden Dramas einläuten. Ein Paukenschlag war es nicht, eher eine sanfte Berührung der Triangel. Sein Beichtchen kommt pünktlich zum Start der Tour de France. Die beginnt am Samstag, und die Tage davor sind traditionell die Tage des Donners. Wer etwas zu Sagen hat, sagt es jetzt, wenn die Aufmerksamkeit am höchsten ist. Wobei es ihm vielleicht nicht mal darum ging. Er sei überrascht, so Ullrich, welche Wellen seine Sätze schlagen würden.

Mit dem Stand der Wissenschaft und des Wissens sind Ullrichs Aussagen kaum in Einklang zu bringen. Der „Spiegel“ berichtete bereits 1999 von Epo-Missbrauch im Team Telekom, darunter auch Jan Ullrich. Der ehemalige Masseur Jeff d’Hont bestätigte dies. Und Experten sind sich einig, dass es als ausgeschlossen gelten dürfte, dass Ullrich einzig sein Blut aufmotzen ließ, von allem anderen (Epo, Wachstumshormone) aber die Finger ließ. Er lügt allem Anschein nach weiter. „Ich habe mich entschieden, so viel zu sagen, wie ich kann. Alles andere war nicht möglich“, sagt Ullrich. So viel Wahrheit also, wie er sich leisten kann? „Ich will nur noch nach vorne schauen und nie wieder zurück.“

Ullrich: „Ich wollte für Chancengleichheit sorgen“

Er tat, was getan werden musste. So sieht er es. In den Niederladen kam eine Antidopingkommission zu dem Ergebnis, dass um die Jahrtausendwende etwa 95 Prozent aller niederländischen Radprofis gedopt gewesen seien. Es sei, so die befragten Fahrer, die einzige Möglichkeit gewesen, um im Profiradsport zu bestehen.

Der mittlerweile geständige Dopingsünder Stefan Schumacher sagte: „Doping wird zum Alltag wie der Teller Nudeln.“

Der mittlerweile geständige Lance Armstrong sagte: „Es war wie Reifen aufpumpen und Wasserflaschen auffüllen.“

Doping als Instrument des gerechten Sports?

In Ullrichs Worten klingt das nach Jahren des Lavierens, das für alle Doper zwangsläufig Teil des Berufs wurde, so: „Fast jeder hat damals leistungssteigernde Substanzen genommen. Ich habe nichts genommen, was die anderen nicht auch genommen haben. Betrug fängt für mich dann an, wenn ich mir einen Vorteil verschaffe. Dem war nicht so. Ich wollte für Chancengleichheit sorgen.“ Der Primus inter pares sein. Erster unter Gleichen. Darum ging es: nicht zwingend um einen Vorteil, sondern darum, keinen Nachteil zu haben? Eine zynische Logik.

Es klingt für Außenstehende absurd, aber Ullrich, der noch immer im System gefangen ist, ist davon überzeugt. Erst der Betrug aller kreiert Fair-Play für alle. Doping als Instrument des gerechten Sports?

Kaum einer der Radprofis widerstand der Versuchung

Alles, was man über den entfesselten Radsport der Epo-Generation weiß, lässt den Schluss zu, dass flächendeckend gedopt wurde. Friss oder stirb – betrüge oder lass es bleiben. Ohne Feintuning aus der Apotheke waren große Siege nicht möglich, kaum einer widerstand. Das macht es für alle Beteiligten wohl auch so schwer, den Betrug als Betrug zu sehen: Niemand wollte dopen, aber was sollten sie tun?

Auf gewisse Art hat Ullrich im ersten Moment vielleicht sogar Recht – allerdings ist angesichts der Wahl der Mittel und der möglichen unterschiedlichen Wirkung das tatsächliche, also das natürliche Leistungsvermögen der Fahrer nur sehr schwer einzuschätzen. Auch Ullrichs Einschränkung mit „fast jeder“ zeigt schon, dass es sehr wohl Betrogene gab.

Wohlwollend könnte man sagen, dass Jan Ullrich für die Öffentlichkeit nicht den reuigen Sünder heuchelt, als den er sich ja nicht sieht. Seine Ehrlichkeit weiß aber nur Lance Armstrong zu schätzen.