Warum versperren Gaffer regelmäßig Rettungsgassen? Wir haben gelernt, Hilfe zu delegieren. Dass bei jedem Unfall echte Menschen helfen und leiden, vergessen wir dabei, meint die StZ-Autorin Hilke Lorenz.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Jeden, der die Bilder des ausgebrannten Busgerippes am Rande der Autobahn bei Hof sieht, durchfährt dabei nur ein Gedanke: Was, wenn ich oder ein mir nahestehender Mensch in dem Bus gesessen hätte.

 

Doch die verständliche Angst vor einem Unglück mischt sich mit einem noch größeren Unbehagen, ja Ekel. Denn es sind gleich zwei furchtbare Nachrichten, die von dem Unfall ausgehen. Die Vorstellung, dass 18 Menschen dem brennenden Inferno nicht rechtzeitig entkommen konnten, ist nur die eine. Als sei das nicht schon schlimm genug, berichten die Retter, dass ihnen Schaulustige den Weg zur Unfallstelle versperrten und die Rettungsgasse nicht ausreichend breit war.

Fast haben wir uns an diesen Zusatz in den Unfallmeldungen schon gewöhnt. In ganz schlimmen Fällen gipfeln sie noch in dem Nachklapp, die Helfer seien beschimpft oder gar tätlich attackiert worden. Und das alles nur, um schnell ein paar Fotos in den sozialen Netzwerken teilen zu können?

Die Politik hat solches Verhalten am Freitag im Bundesrat wieder auf der Tagesordnung. Schon jetzt sind unterlassene Hilfeleistung und das Fotografieren und Filmen eines Unfalls Straftaten, die mit Strafen von ein beziehungsweise zwei Jahren Gefängnis abgeurteilt werden können. Am Freitag geht es nun um höhere Bußgelder, wenn Autofahrer die Rettungsgasse nicht richtig bilden. Drastischere Maßnahmen gegen das Gaffen und andere Ungeheuerlichkeiten markieren ein Problem. Ob sie es aber auch lösen, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Warum stehen Gaffer im Weg?

Was lässt aus dem Mann oder der Frau, die gerade noch unauffällig hinter einem gefahren ist, den Menschen werden, der die Versorgung eines Unfallopfers verhindert und so den Tod eines Menschen in Kauf nimmt? Warum verspüren zu viele Menschen den selbstverständlichen Impuls nicht mehr, wenn sie schon nicht selbst helfen können, dann doch wenigstens nicht im Wege zu stehen?

Sind es nur individuelle Entgleisungen, die in den unterschiedlichen Charakteren liegen? Oder ist diese Form der Verrohung und der Verlust jeder Mitmenschlichkeit, dieses mangelnde Abstraktions- und Einfühlungsvermögen für dringend nötige Hilfe ein Phänomen, das wir zwar beklagen können, aber gleichzeitig doch auch selbst jeden Tag leben und befeuern? Denn es ist schon seltsam: Den Tod in unserem persönlichen Umfeld verdrängen wir zunehmend. Die Zahl der offenen Aufbahrungen bei Trauerfeiern nimmt ab. Die obszöne Lust am Sterben und Leiden der anderen jedoch nimmt offenbar stetig zu.

Das Smartphone kennt kein Mitleid

Allein wachsende Schaulust zu beklagen, würde zu kurz greifen. Seit es Menschen gibt, gibt es die Lust hinzuschauen, wenn etwas Unerhörtes geschieht. 90 Prozent der Menschen schauen interessiert hin, zehn Prozent weg – so lautet die Faustformel in der Katastrophenforschung und in der Psychologie. Das ist wohl so. Aber da unser Miteinander mit den Jahren komplexer geworden ist, haben wir uns daran gewöhnt, vieles zu delegieren. Auch und gerade das Helfen. Das ist im Grunde nicht schlecht, weil professionelle meist auch verlässliche Hilfe ist. Wenn es in der Nachbarschaft brennt, holen wir schon lange nicht mehr selbst den Löscheimer, sondern rufen die Feuerwehr. Dass es Menschen sind, die stellvertretend für uns handeln und dass echte Menschen Hilfe brauchen, haben manche darüber offensichtlich vergessen. Das Unheil dringt in diese abgeschottete Welt nur indirekt durch Bilder aus dem Fernsehen oder dem Internet.

Hinter dem Filter gibt es kein (Mit)-Leiden, dorthin lassen sich wiederum nur Bilder packen. Nicht der Mensch schaut hin, sondern sein Smartphone, das empathielos Bilder macht. Vielleicht sollten wir anfangen, unser Leben wieder häufiger draußen bei den anderen zu leben. Dann wären wir ihnen auch im Notfall wieder näher.

So bildet man eine Rettungsgasse: