Die Zahl der Fahrradunfälle hat einen neuen Höchststand erreicht. Viele Unfälle verursachen die Radfahrer selbst. Vor allem bei Pedelecs ist die Entwicklung dramatisch.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart - Ständig steigende Zahlen meldet die Stadt von ihren Zählstellen für den Fahrradverkehr in Stuttgart. Der Eindruck trügt also nicht: Sei es aufgrund der Umweltfreundlichkeit oder wegen des individuellen Gesundheitsbewusstseins – immer mehr Stuttgarter radeln trotz Kessellage und der vielen Steigungen durch die Stadt. Dass diese Zunahme des unmotorisierten und mit Elektromotor unterstützten Zweiradverkehrs sich auch in der Unfallstatistik bemerkbar macht, war folglich nur eine Frage der Zeit. Nun hat die Verkehrspolizei in der jüngsten Unfallstatistik neue Negativrekordzahlen gemeldet: 532 Fahrradfahrer waren 2018 in Unfälle verwickelt, dazu kommen 98 Pedelecfahrer, an deren Fahrrad ein Unterstützungsmotor bergauf das Treten erleichtert. Zusammengerechnet sind das 630 verunglückte Zweiradfahrer ohne Knautschzone, pro Tag 1,7 – ein Höchststand der zurückliegenden zehn Jahre.

 

Die Zahlen sind drastisch gestiegen, sowohl bei Pedelec- als auch bei unmotorisierten Radfahrern deutlich über dem Landesdurchschnitt. Die 98 Pedelecunfälle bedeuten eine Zunahme um 66 Prozent im Vergleich zu 2017. Im Land waren es 45,1 Prozent. Bei den Radfahrern stieg die Unfallzahl um 19 Prozent (Land: plus 8,5 Prozent).

Zahl der Pedelecunfälle hat sich seit 2013 fast verfünffacht

Der Zehn-Jahres-Überblick zeigt, dass bei den Pedelecs die Entwicklung rasant ist. 2009 waren in Stuttgart 423 Fahrradunfälle gezählt worden. 2011 lag der Wert mit 497 auf dem bisher höchsten Stand. Danach pegelte sich die Zahl auf Werte um 450 ein, bis es 2018 den Sprung auf deutlich mehr als 500 Fälle gab. Die Zahl der Pedelecunfälle hat sich seit 2013 nahezu verfünffacht. Zahlen aus den Jahren davor liegen nicht vor – sie waren so niedrig, dass sie nicht extra erfasst wurden. 2013 war es zu 21 Unfällen mit Elektrofahrrädern gekommen.

Die starke Zunahme erklärt die Chefin der Verkehrspolizei, Claudia Rohde, auch damit, dass E-Bikes nicht mehr nur von älteren Menschen als Hilfe, wieder in den Sattel zu kommen, genutzt werden. „Inzwischen werden auch sehr sportliche Modelle produziert, die viele Pendler für den Weg zur Arbeit nutzen“, hat sie beobachtet. Frühere Nutzer waren eher in der Freizeit und somit auch nicht im dichten Stadtverkehr unterwegs.

Sehen und gesehen werden ist dabei ein wichtiger Punkt, wenn man die Ursachen betrachtet. Typisch ist der Hergang eines Unfalls, bei dem im September 2018 ein Radfahrer leicht verletzt wurde. Ein Autofahrer war im Westen von der Silberburg- auf die Lerchenstraße eingebogen. Er hielt am rechten Fahrbahnrand an. Offenbar hatte er beim Abbiegen übersehen, dass an der Lerchenstraße in gleicher Fahrtrichtung ein Radfahrer fuhr. Dieser musste so stark bremsen, dass er stürzte. „Man muss im dichten Stadtverkehr immer auch für den anderen mitdenken“, sagt Claudia Rohde, zu Unfällen wie diesen. Mal werde ein Radfahrer an einer Stelle nicht erwartet – so wohl auch bei jenem Unfall auf der Lerchenstraße. Und mal sei er, vor allem wenn er Pedelec fahre, schneller, als es Autofahrer einem Radler im hügeligen Stuttgart zutrauen würden. „Aber auch bei den Pedelecunfällen sind welche dabei, die man als ganz normale Radunfälle betrachten kann“, sagt Claudia Rohde. So etwa der Sturz einer 35 Jahre alten Frau, die im Sommer am Eugensplatz stürzte. Sie war mit dem Vorderreifen ihres Pedelecs in die Stadtbahnschienen geraten – ein gefährlicher Klassiker bei Radfahrunfällen. Trotz ihres Helms zog sich die Frau schwere Kopfverletzungen zu.

Dieser Sturz ist auch unter einem weiteren Gesichtspunkt typisch für die gemeldeten Radunfälle: Die Fahrradfahrerin war daran alleine schuld. Das war in mehr als der Hälfte der Fahrradunfälle so, bei 53 Prozent. Bei den Pedelecnutzern lag dieser Wert bei 44 Prozent.

Regeln helfen, die Unfallgefahr zu minimieren

Was der Leiterin der Verkehrspolizei Sorge bereitet, ist die nach wie vor hohe Bereitschaft, sich unter Alkoholeinfluss aufs Fahrrad zu setzen. „Bei Autofahrern ist da die Einsicht größer“, stellt sie fest. Alkohol rangiert auf Platz vier der häufigsten Unfallursachen bei Fahrrädern. Davor liegen nicht angepasste Geschwindigkeit, Fehler bei der Fahrbahnnutzung – also etwa auf dem Gehweg radeln – und das Missachten der Vorfahrt. An dieser Stelle hat Claudia Rohde einen grundsätzlichen Appell an alle Verkehrsteilnehmer, nicht nur an Radfahrer: „Der Straßenverkehr hat Regeln, und diese helfen, die Unfallgefahr zu minimieren.“

Eine gesetzliche Regel für das Tragen des Helmes beim Radfahren existiert jedoch in Deutschland nicht. Rohde hofft dennoch, dass mehr Menschen zur schützenden Kopfbedeckung greifen. „Ein Helm verhindert zwar keinen Unfall, aber schwere Kopfverletzungen“, sagt sie. 38 Prozent der verunglückten Rad- und 54 Prozent der Pedelecfahrer trugen Helme. „Da besteht eindeutig Nachholbedarf“, sagt Claudia Rohde.