70 Milliarden Euro entgehen der EU jedes Jahr durch Steuervermeidungsmodelle. Wie kann das verhindert werden? Ein Forscherteam um den Tübinger Finanzwissenschaftler Georg Wamser will es herausfinden.

Tübingen - Für den Staat ist es ein großes Ärgernis: Multinationale Konzerne wie Apple und Google, Facebook und Starbucks machen in Deutschland große Geschäfte, zahlen allerdings kaum Steuern. Aber auch Unternehmen mit Hauptsitz in Deutschland führen ihre Steuern lieber dort ab, wo die Steuersätze niedriger sind oder wo sie günstige Deals ausgehandelt haben. Der Steuerwettbewerb nimmt seit Jahren zu. Nach Schätzungen der EU-Kommission verlieren die Mitgliedsstaaten durch Steuervermeidungsmodelle von Konzernen jährlich bis zu 70 Milliarden Euro. In der EU gelten vor allem Irland, Luxemburg und die Niederlande als gefragte Steuerparadiese, dazu kommen Steueroasen weltweit.

 

Wie sich Steuerflucht verhindern lässt, beschäftigt nicht nur Politiker, sondern auch Wissenschaftler. Georg Wamser, Professor am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Tübingen, untersucht schon seit langem, wie multinationale Unternehmen ihre Aktivitäten direkt und indirekt an die internationalen Steuervorschriften anpassen und welche Folgen das für Wirtschaft und Gesellschaft hat. Nun erhalten er und sein zehnköpfiges Team mit Experten aus Tübingen, Mannheim, Ingolstadt, Köln und Münster finanzielle Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft – zunächst 1,5 Millionen Euro für drei Jahre, eine Verlängerung um weitere drei Jahre kann beantragt werden.

Steuervorteile durch Absprachen

Die Arbeit der Wissenschaftler ist aufwendig, denn Informationen aus verschiedensten Quellen müssen wie Puzzleteile zusammengesetzt werden. Je größer und verzweigter ein Konzern ist, desto unübersichtlicher kann es werden. Aufgrund des Steuergeheimnisses erhalten weder Forscher noch andere Interessierte von den Finanzbehörden Auskunft darüber, welches Unternehmen wie viel Steuern bezahlt – und wo. Daten der Deutschen Bundesbank, die den Wissenschaftlern zugänglich sind, lassen sich nicht einzelnen Konzernen zuzuordnen. Werden sie allerdings mit zusätzlichen Informationen etwa aus Unternehmensdatenbanken kombiniert, könne man durchaus einige Schlüsse ziehen, sagt Wamser. Wenn beispielsweise ein internationaler Konzern in den Niederlanden sieben Prozent seiner Arbeitskräfte beschäftige und vier Prozent seiner Produktionsanlagen dort unterhalte, aber stetig 13 Prozent seiner Gewinne dort versteuere, dann liege die Vermutung nahe, dass ein Teil der Unternehmensgewinne dorthin verschoben würden, sagt der 42-Jährige, der unter anderem beim Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (IFO) sowie in Norwegen und der Schweiz gearbeitet hat.

Ein solches Vorgehen kritisierten die EU-Wettbewerbshüter vor zwei Jahren bei dem schwedischen Möbelkonzern Ikea, weil die Läden in anderen Ländern drei Prozent ihres Umsatzes als Franchisegebühr in die Niederlande überwiesen und dieses Geld zumeist unversteuert nach Luxemburg weiterfloss. Auch Steuerdeals der Niederlande mit Starbucks oder von Luxemburg mit dem Autobauer Fiat-Chrysler erklärten sie für illegal und forderten Nachzahlungen. Die bisher höchste Rückzahlungsforderung erging 2016 wegen Steuerabsprachen Irlands mit dem US-Computerkonzern Apple: Irland muss 13 Milliarden Euro zurückverlangen – der Fall ist bis heute nicht abgeschlossen.

EU-Länder müssten gemeinsam handeln

Solche Einzelmaßnahmen reichen aus Sicht von Wamser jedoch nicht aus. Nötig wäre, dass sich die Staaten auf gemeinsame Standards einigen, zumindest in der EU. 2018 betrug etwa die Körperschaftsteuer in Ungarn nominal neun Prozent, in Irland 12,5 Prozent, in Deutschland 29,8 Prozent und in Frankreich 34,4 Prozent. Würden die Einkünfte europaweit nach denselben Grundsätzen ermittelt und besteuert, könnten die Firmen die Länder nicht gegeneinander ausspielen – und diese sich nicht austricksen. Das zu erreichen ist aber schwierig, weil die Länder, die von den unterschiedlichen Steuersätzen und besonderen Unternehmensabsprachen profitieren, wenig Interesse an strengeren Vorgaben haben. „Es ist scheinheilig, dass sich in der EU-Kommission viele damit beschäftigen, wie Gewinnverschiebung verhindert und richtig besteuert wird, und die Länder gleichzeitig Strategien wählen, um Unternehmensteile von Steuern zu befreien“, sagt er.

Die Folgen des Steuerwettstreits sind keineswegs trivial. Zum einen entgehen den Staaten mit höheren Steuersätzen Einnahmen, die für öffentliche Aufgaben wie Bildung, Wissenschaft und eine gute Infrastruktur notwendig sind. Zudem wird der Wettbewerb zwischen den Firmen verschärft. Aus diesem Grund rufen viele Unternehmen in Deutschland nach Steuersenkungen. Wer durch Gewinnverschiebungen Steuern spart, kann Konkurrenten leicht in die Knie zwingen – Apple und Facebook sind binnen weniger Jahre zu den größten und einflussreichsten Unternehmen weltweit geworden.