Erst die Tragödie, dann die Komödie: mit der Uraufführung der „Abweichungen“ von Clemens Setz im Kammertheater ist die Stuttgarter Intendanz von Burkhard C. Kosminski jetzt endgültig eröffnet worden.

Stuttgart - Eine Putzfrau räumt sich aus dem Weg: In ihrer eigenen Besenkammer wird Frau Jassem tot aufgefunden. Aber anders als sich selbst schafft sie damit nicht die Miniaturmodelle aus der Welt, die sie heimlich von den Wohnungen ihrer Arbeitgeber gemacht hat. „Outsider-Art“ schwärmt die Galeristin und plant mit den Raumkopien der Selbstmörderin J. Jassem eine Ausstellung. Wow! Das neue Projekt toppt alles! Bei genauerer Betrachtung weisen die minutiös nachgebauten Wohnungen nämlich Abweichungen vom Original aus, winzig, aber doch so auffallend, dass es die darin wohnenden Familien irritiert: Was soll das zweite Kind hier? Wieso liegt da ein Krokodil? Warum steht der Schrank in der falschen Stube?

 

Solch bizarre Fragen wirft Clemens Setz in seinem neuen Stück auf, ohne sie zu beantworten. Ungeklärt schweben sie erst über den Wohnungsmodellen, dann über den Menschen, die vom Sog der sie betreffenden und bedrohenden, ihre Intimität verletzenden „Selbstmörderkunst“ ergriffen werden: „Die Abweichungen“ erweisen sich als abgründige Komödie voll skurrilem, bitterem Humor und sind als Auftragswerk fürs Stuttgarter Schauspiel entstanden. Denn das ist eine der Säulen der neuen Intendanz von Burkhard C. Kosminski: zeitgenössisches Autorentheater, uraufgeführt in seinem Haus, in diesem Fall im Kammertheater. Dass er gleich zum Auftakt den österreichischen Romancier Clemens Setz dafür gewinnen konnte, erweist sich dabei als absoluter Glücksfall für die Dramenliteratur.

Geschichtslehrer als Giftzwerg

Nach zwei Tragödien zum Intendanzstart, den „Vögeln“ und der „Orestie“, am Sonntag also das Satyrspiel, die Komödie – und äußerlich erfasst der Regisseur Elmar Goerden die geheimen Triebkräfte der „Abweichungen“ sehr genau. Von Silvia Merlo & Ulf Stengl hat er sich eine weiße, aus Winkeln bestehende Box – fast wie von Frau Jassem, nur raumfüllend – auf die Bühne stellen lassen. In dieser labyrinthischen Kunstskulptur spannt er die schwarze Setz-Komödie auf, in der die manipulierten Puppenstuben wie ein Katalysator wirken und Ängste und Sehnsüchte auslösen, die in den Nutzern der realen Wohnungen bisher nur im Geheimen ihr Unwesen getrieben haben. Fortan aber verhalten sich die Menschen merkwürdig – und die Machtverhältnisse kehren sich um: Posthum ist es die tote Putzfrau mit ihrer Kunst, die bei den Kaindls, Oesterles, Schabs auf umwegig unheimliche Weise das Sagen hat.

Schleichend verwirren sich die Leben der Figuren. Die einen reagieren gelähmt auf die Post-Jassem-Zeit, die anderen hysterisch. Bei den Kaindls lag im Bett das zweite Kind, das sie nie hatten. Unerhört, findet Sven Prietz als Herr Kaindl und versucht, die Outsider-Ausstellung zu verhindern – der Geschichtslehrer als Giftzwerg, der die Kuratorin stalkt und bei seiner eigenen Frau Ohrfeigen mit Zärtlichkeiten verwechselt. Sie aber, Katharina Hauter, verfällt in Lethargie und drückt einen Müllsack wie ein Neugeborenes an ihre Brust. Geschmeidig lässt Goerden die sich überschneidenden Miniaturen vorbeifließen, eine Groteske löst flugs die nächste ab – und doch verschenkt seine Inszenierung viele der bösen Pointen, die einem aus den „Abweichungen“ entgegen purzeln.

Die tollen Alten

Das liegt daran, dass er aus den Spielern, auch aus Prietz und Hauter, nicht das rausholt, was rauszuholen wäre: das beklemmende Gefühl, vom richtenden Auge Jassems noch immer im Innersten erkannt und erschüttert zu werden. Die Stückfiguren bleiben Schablonen. Und nur die tollen Alten machen eine Ausnahme: Peter Rühring und Anke Schubert geben ein Paar, deren Zweisamkeit von seltsamen, vermutlich aus tiefsten Tiefen kommenden Entgleisungen geprägt wird. Das gibt Rätsel auf und bewegt sich auf der Höhe des Stoffs, den Clemens Setz gewebt hat.

Rühring, Goerden und dazu Verena Buss als Mutter der Galeristin: Das sind alte Bekannte aus der Ära von Friedrich Schirmer. Mehr als irgendwo sonst scheint Kosminski an diese Zeit anknüpfen zu wollen – mit Abweichungen, versteht sich.