Die Christengemeinschaft, immer wieder als Anthroposophen-Kirche bezeichnet, feiert im Juni ihr Jubiläum in der Werfmershalde. Die Festtage werden auch zu einer scharfen Grenzziehung mit den „gescheiterten“ Amtskirchen.

Stuttgart - Für Michael Debus ist es kein Wunder, dass sich die christlichen Amtskirchen in einer großen Krise befinden. Dabei geht es dem Christengemeinschaftspfarrer im Ruhestand weniger um die Skandale wie Missbrauch oder die Diskriminierung von Menschen. Für ihn ist viel bedeutender, dass diesen Religionsgemeinschaften der Geist fehle. Natürlich spricht er vom Geist im theologischen Sinne der Trinität. Aber dahinter verbirgt sich auch das Fehlen eines Spirits, der Menschen zusammenhält oder beflügelt. Ohne diesen verbindenden Teamspirit, den sogenannten Geist von Spiez, wären die Mannen von Bundestrainer Sepp Herberger 1954 vermutlich nie Fußball-Weltmeister geworden. Ohne Spirit, ohne Geist, hält es immer weniger Menschen in den Kirchen. „Alle Kirchen haben dieses Problem“, sagt Debus, „und deren Lösung ist Kompromiss.“ Ein Irrweg aus seiner Sicht.

 

Denn nicht nur Kirchen würden zerfallen, sondern alle Gemeinschaften der Menschen verlören ihre Bindungskräfte. „Wir leben in einer geistlosen Welt“, sagt Debus, „es fehlt das Geistige in der Gesellschaft, das Geistige in den Biografien.“ Seine Lösung aus der spirituellen Krise: „Wir müssen wieder gemeinschaftsfähig werden.“ Damit ist das Stichwort gefallen: Gemeinschaft. Michael Debus denkt selbstredend an seine Christengemeinschaft, die vor 100 Jahren in Stuttgart gegründet wurde. Denn so könne es nicht weitergehen – weder damals noch heute, meint Debus. 1922 suchten 45 junge Theologen mehr, als die beiden großen christlichen Kirchen anzubieten hatten. Sie fühlten wie viele in dieser Pandemie – als Sinn- und Sehnsuchtssucher in einer zerbrechenden, materialistischen Welt.

Reinkarnationsgedanke wird nicht abgelehnt

Und wie soll es anders sein: Am Anfang war das Wort. Am 2. Dezember 1911 hat einer der Gründer, Friedrich Rittelmeyer, das Wort an den Anthroposophen Rudolf Steiner gerichtet. Von da an entwickelten sich die Gedanken, die Gespräche und Absichten zur Gründung der dritten Kirche. Also jener Kirche, die den Katholizismus (die petrinische Kirche) und den Protestantismus (die paulinische) überwindet und zum johanneischen Christentum wird. Sie wird die künftige Kirche genannt und nimmt am 12. Juni 1921 im Haus der Anthroposophischen Gesellschaft in der Landhausstraße 70 die Arbeit auf. Es geht um das eine und einzige Thema: die religiöse Erneuerung – die dritte Stufe der Menschheit. „Wenn nun jemand sagen würde, ihr habt die Kirche des Heiligen Geistes verwirklicht, würde ich mich nicht wehren“, sagt der Geistliche Michael Debus verschmitzt lächelnd. Aber was steckt hinter dieser Anthroposophen-Kirche, wie sie oft fälschlicherweise genannt wird? Natürlich gibt es formale Merkmale. Da ist die Glaubensfreiheit, die auch den Gedanken an Reinkarnation nicht verteufelt. Und da ist die Lehrfreiheit, die keine Dogmen kennt. Im Mittelpunkt stehen die sieben Sakramente (Taufe, Konfirmation, Menschenweihehandlung, Beichte, letzte Ölung, Trauung, Priesterweihe) und das Neue Testament, in dem der Tod und die Auferstehung Jesu Christi die entscheidenden Ereignisse der Menschheitsgeschichte sind.

Und natürlich braucht die Christengemeinschaft keine katholische Maria-2.0-Protestbewegung, die für Frauenrechte in der Kirche kämpft. Darüber berichtet die Zeitzeugin Gertrud Spörri. Sie hat aus dem Gespräch mit Rudolf Steiner am 24. Mai 1921 folgendes Zitat von ihm notiert: „Es müsste von Anfang an ganz klar sein, dass bei einer solchen Arbeit ein Unterschied zwischen Mann und Frau nicht bestehen kann.“ Spörri merkt dazu an: „Mit ruhevoller Gelassenheit sprach er diese inhaltsschweren Worte.“ Es war nur eine Antwort Steiners auf die drängenden Fragen der Zeit. Steiner und damit die Christengemeinschaft geben bis heute Antworten nach dem Gelingen eines religiösen Lebens.

Krise als Inspiration

Für Michael Debus ist daher klar: Schon vor 100 Jahren muss der Heilige Geist in großer Vorausschau auf die heutige(n) Krise(n) der Menschheit die Gründer inspiriert haben. Denn heute habe die Stimmung angesichts der vielschichtigen Bedrohungen etwas von der „Situation Noahs vor der Sintflut“: „Die Menschen brauchen daher spirituelle Landeplätze“, sagt er, „das wäre eigentlich auch die Aufgabe der anderen Kirchen.“ Aber das „Misstrauen gegenüber der römisch-katholischen Kirche sei greifbar und den protestantischen Kirchen fehlt der Anschluss ans Geistige“. Natürlich weiß er, dass diese Kritik mit der Frage nach den Mitgliederzahlen der Christengemeinschaft, die in der Werfmershalde 19 zu finden ist, leicht gekontert werden kann. Aber das nimmt er gelassen hin: „Es irritiert mich nicht, dass wir nicht explosionsartig wachsen, aber wir haben auch keine Austrittswelle.“

So ist die Christengemeinschaft in Stuttgart aus dieser Perspektive eine konstante Größe (etwa 600 Haushalte in Stuttgart-Mitte). Der Blick der Gemeinde auf sich selbst fällt dagegen ganz anders aus: Hier hat sich der Geist in seiner neuen, seiner eigentlichen Kirche seit 100 Jahren verwirklicht.

Chronologie:

Am 2. Dezember 1911 findet die Initialzündung in einem ersten persönlichen Gespräch zwischen Friedrich Rittelmeyer und Rudolf Steiner in Nürnberg statt.

Rudolf Steiner ermuntert Friedrich Rittelmeyer im Jahr 1917mit den Worten: „Das Religiöse ist Ihre Aufgabe.“

Der Philosophie-Student Johannes Werner Klein stellt am 8. Februar 1920 Rudolf Steiner die Frage nach der dritten Kirche. Das löste einen Prozess aus, der zweieinhalb Jahre später zur Gründung der Christengemeinschaft führte.

Am 12. Juni 1921 findet im Haus der Anthroposophischen Gesellschaft, Landhausstraße 70), der erste grundlegende Kurs statt.

Am 16. September 1921 wird der erste Gottesdienst („Die Menschenweihehandlung“) durch Friedrich Rittelmeyer vollzogen.

3. Dezember 1922: Erster öffentlicher Gottesdienst im Saal der der Firma Schiedmayer in der Neckarstraße.

Am 1. Oktober 1939ist die Einweihung von Kirche und Gemeindehaus Werfmershalde 19.

1941:Verbot der Christengemeinschaft durch das Nazi-Regime. Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme von Büchern und Inhaftierung von Pfarrern.

Vom 10. bis 13. Juni 2021 feiert die Christengemeinschaft in der Werfmershalde „100 Jahre erster Theologenkurs“. Infos unter 0711/2859090 oder per Mail stuttgart-mitte@christengemeinschaft.org