Nach 50 Verhandlungstagen geht der Prozess gegen Anhänger des türkischen Boxclubs Osmanen Germania am Donnerstag zu Ende. Die Verteidiger sehen einen „Skandal“ und kritisieren „einseitige Ermittlungen“.

Stuttgart - War der inzwischen aufgelöste Boxclub Osmanen Germania eine kriminelle Vereinigung, die aus politischen Motiven den Straßenkrieg mit den Kurden vorangetrieben hat? Oder handelt es sich um einen „Männerbund“ sporttreibender Deutschtürken, in denen es zu Gewaltexzessen einiger weniger gekommen ist? So unterschiedlich sind die Sichtweisen zwischen Anklage und Verteidigung am Stuttgarter Landgericht. An diesem Donnerstag will der Richter Joachim Holzhausen sein Urteil fällen. Einige der sieben verbliebenen Angeklagten müssen mit hohen Haftstrafen rechnen.

 

Es war ein Verfahren der Superlative: Beim Prozessauftakt am vergangenen 29. März kreiste ein Hubschrauber über der Justizvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim, Kreuzungen waren abgesperrt und 300 Polizisten im Einsatz. Der Staatsanwalt Michael Wahl sprach in seiner Anklage von versuchtem Mord, schweren Gewalttaten, Menschenhandel und Zwangsprostitution. Vorwiegend ging es um Konflikte innerhalb der hierarchisch geführten Organisation, die 2015 in Frankfurt gegründet worden war und in der Hochphase bis zu 2000 Mitglieder bundesweit verzeichnet haben soll.

Verteidiger: Es bleibt nicht viel übrig von der Anklage

Der Prozess fand im Mehrzwecksaal des Gefängnisses statt, der 1977 für die RAF-Prozesse gebaut worden war. Einiges hat sich im Lauf des zähen Verfahrens relativiert, etwa der Vorwurf des Mordversuchs, und das Verfahren gegen einen der ursprünglich acht Verdächtigen wurde vollständig eingestellt. Und zu gewaltsamen Zwischenfällen ist es, anders als bei früheren Rockerprozessen, in Stuttgart-Stammheim auch nicht gekommen.

Die Suche nach der Wahrheit gestaltete sich für das Gericht aber ausgesprochen mühsam. Zeugen widersprachen sich, hatten Erinnerungslücken oder zogen frühere Aussagen zurück. Der Anwalt Markus Bessler, der den Stuttgarter Osmanen-Präsidenten Levent Uzundal vertritt, kritisierte in seinem Plädoyer, es bleibe nicht viel von der Anklage übrig. Die Öffentlichkeit und Teile der Presse hätten die Angeklagten vorverurteilt. „Was ist nicht alles analysiert worden über die Gefährlichkeit der Osmanen“, sagte er, „aber es ist überhaupt nichts passiert.“ Sein Advokatenkollege Hans Steffan sprach von einem Skandal, die Ankläger hätten „einseitig zu Lasten unseres Mandanten“ ermittelt, wesentliche Ermittlungsergebnisse seien der Verteidigung vorenthalten worden.

Stuttgarter Osmanen-Chef soll „mäßigenden Einfluss“ gehabt haben

Die Staatsanwaltschaft sieht das anders. Der oberste Ankläger Michael Wahl erkennt in Levent Uzundal den Hauptverantwortlichen für viele Gewalttaten und fordert acht Jahre und sechs Monate Haft. So soll Uzundal nicht verhindert haben, dass in seiner Wohnung in Herrenberg (Kreis Böblingen) ein abtrünniger Osmanen-Präsident aus Hessen im Februar 2017 tagelang misshandelt und schließlich angeschossen wurde. Auch soll er brutale Abstrafungen von Aussteigern nicht unterbunden haben, wie Wahl erklärt: „Wer einen Befehl gibt, der haftet dafür, wenn andere ihn vollziehen.“

Zudem wird Uzundal vorgeworfen, die Verantwortung für einen „Kampf unter Osmanen“ in Wuppertal zu tragen. Auch soll er seine Ex-Freundin in die Prostitution getrieben habe, wie deren Anwältin unterstreicht. Die Verteidiger Bessler und Steffan sehen in Uzundal hingegen jemanden, der den Opfern geholfen habe und einen mäßigenden Einfluss habe ausüben wollen.

Richter Holzhausen hat einen schwierigen Job

In vielen der 21 Anklagepunkte gibt es noch ungeklärte Fragen. Der Richter Joachim Holzhausen hat mit großer Geduld, Sorgfalt und Augenmaß dieses Verfahren strukturiert und dabei stets den Überblick behalten. Was oft schwierig war. Zwei Kronzeugen, der in Herrenberg misshandelte Ex-Präsident und der aus dem Fernsehen bekannte Aussteiger namens Cebo aus Wuppertal, sprachen im Zeugenstand recht unstrukturiert. Ein anderer Zeuge, der ehemalige Stuttgarter Vizepräsident Mustafa K., ließ sich freies Geleit garantieren, reiste aus der Türkei ein, um Licht ins Dunkel zu bringen – und verweigerte dann vor Gericht die Aussage.

Osmanen-Chef Mehmet Bagci droht keine hohe Strafe

So bleibt das Bild der Organisation diffus. Der an der Spitze stehende „Weltpräsident“ Mehmet Bagci, der als Gründer und unumstrittener Anführer der Osmanen gilt, wurde unter anderem wegen Zeugenbeeinflussung angeklagt. Die Staatsanwaltschaft fordert ein Jahr und zehn Monate Gefängnis – die mit der Untersuchungshaft abgegolten sein dürfte. Viele Anhänger erwiesen Bagci ihre Reverenz und grüßten ihn vor Gericht. Seine Autorität und der Respekt der Anhänger war sogar dann erkennbar, wenn er zu Beginn jedes Verhandlungstages mit Handschellen in den Gerichtssaal geführt wurde – wie die übrigen Angeklagten auch.

Seinem Vizepräsidenten Selcuk „Can“ Sahin unterstellt die Staatsanwaltschaft, die Tat in Herrenberg beauftragt zu haben: „Er war der Mann, der den Daumen hob und senkte.“ Der Ankläger fordert fünf Jahre und sechs Monate Haft für Sahin. Die Verteidigung sprach von konstruierten Vorwürfen. Sahins Anwalt Klaus Rüther sagte in seinem Plädoyer, der Osmanen-Vize habe nur vermitteln wollen. Sein Vorwurf: „Dieser Prozess war nur ein Baustein zur Vorbereitung der Verbotsverfügung.“ Er bezog sich auf das Verbot der Osmanen durch den Innenminister Horst Seehofer (CSU) im vergangenen Juli.

Politik bleibt im Prozess außen vor

Es waren Konflikte innerhalb der Osmanen-Organisation, die sich wie ein roter Faden durch den Prozess zogen, weniger die in anderen Verfahren abgehandelten Auseinandersetzungen mit Kurden. Diese hatten in der Öffentlichkeit seit 2016 als „Bandenkrieg“ Aufsehen verursacht und zu Ermittlungen des Landeskriminalamtes geführt. Zwar ging es vor Gericht auch um einen Vorfall in Ludwigsburg, bei dem am 30. November 2016 auf offener Straße zwei Personen von 20 Osmanen angegriffen worden sein sollen – doch ließ sich keine klare Täterschaft ausmachen.

Um Politik ging es nicht – etwa um mögliche Querverbindungen der Osmanen über den Kulturverein UETD zur AKP-Regierung in der Türkei. Zwar nahmen der Grünen-Politiker Cem Özdemir und der FDP-Landtagsfraktionschef Hans-Ulrich Rülke kurzzeitig auf der Zuschauerbank Platz und forderten, diese Fragen näher zu untersuchen. Doch der Staatsanwalt Michael Wahl erklärte in dieser Woche gegenüber unserer Zeitung: „Wir haben darauf keine strafrechtlich relevanten Hinweise in unserer Zuständigkeit.“ Abgesehen von den Politikerbesuchen blieb das ganze Verfahren daher vollkommen unpolitisch.