Eine Initiative von Vater und Sohn führt Demenzkranke auf ungewöhnlichen Wegen in die Welt der Kunst. und das führt immer wieder zu erstaunlichen Reaktionen.

Stuttgart - Was für ein seltsames Paar: Hans-Robert Schlecht, 72, Bart und Haare schlohweiß, wie Balu der Bär, der etwas in die Jahre gekommen ist. Neben ihm: Sohn Florian, 49, schlank, schulterlange Mähne. Beide stehen in der Stuttgarter Staatsgalerie, um sie herum acht demenzkranke Menschen mit Betreuern. Ein Grüppchen, das in der postmodernen Architektur wirkt, als hätte es sich verlaufen.

 

Sie folgen wie in Zeitlupe der Kunsthistorikerin Sabine Lutzeier und setzen sich auf Klapphockern vor das Pop Art Bild von Roy Lichtenstein, das eine Hand mit einer Spraydose zeigt. „Ist das Sahne, was da aus der Dose kommt?“, fragt eine Dame mit wallendem weißen Haar und beugt sich bis auf Nasenbreite dem Bild entgegen. Da ist auch schon die Aufpasserin im Anmarsch. „Könnte sein“, meint Florian Schlecht, während sich die ersten schon wieder abwenden.

Es geht um die Schönheit der Kunst

Alle zehn Minuten tippelt und rollt die Gruppe weiter. Als sie die Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck erreicht, schwenkt Hans-Robert Schlecht seinen Stock auf die Figur eines Nackten, der auf allen Vieren über den Boden kriecht: „Ich werde nie vergessen, wie einmal meine demenzkranke Mutter vor dieser Skulptur rief: ’Was für ein geiler Arsch!’ Dabei war sie ihr Leben lang eine durch und durch prüde Person.“

Seit zehn Jahren führen Hans-Robert Schlecht und sein Sohn Florian demenzkranke Menschen ins Theater und die Oper, in Museen, in den Zirkus, zu Lesungen und Gottesdiensten. Sie haben dafür einen Verein gegründet und ihn Rosen-Resli genannt. Der Name ist einer Schmonzette von 1954 entlehnt, in der sich eine neunjährige Waise um ihre herzkranke Pflegemutter kümmert. Ist das Inklusion, wenn man eine Gruppe dementer Menschen durch die Staatsgalerie oder ins Opernhaus führt? „Egal, wie man das nennt“, sagt Vater Schlecht. „Es geht um die Schönheit der Kunst, und kranke Menschen empfinden die ebenso wie gesunde.“ Manchmal auch nicht. „Das ist doch keine Kunst“, raunt der Herr neben der zierlichen Frau im Rollstuhl und legt seine Hand auf ihre. Die anderen stimmen ein: „Nein, das ist keine Kunst!“ Kopfschütteln, wegdrehen, weitergehen. „In solchen Momenten juble ich im Stillen“, sagt Hans-Robert Schlecht. Die Menschen anregen, darum gehe es ihm. „Wer von morgens bis abends eine weiße Wand im Heim anstarrt, verstummt. Hier blüht er auf.“

Hans-Robert Schlecht war zeitlebens viel unterwegs. Schon mit 14 zog er als Straßenmusiker durch Frankreich. Zurück in Stuttgart jobbte er in einer Druckerei, leistete Zivildienst, heiratete, wurde Vater, verdingte sich als Chauffeur und landete schließlich in einer Werbeagentur. „Irgendwann machte ich mich selbstständig und verdiente gutes Geld“, erzählt er. Auf der Beerdigung seines Vaters merkte er, dass mit seiner Mutter was nicht stimmte. Als sie allein nicht mehr zurechtkam, zog er zu ihr, sah aber bald, dass ihn die Aufgabe überforderte. „Sie war nachtaktiv. Fiel aus dem Bett, aus der Badewanne, stellte sich nachts unter die Dusche.“ Über die Beratung der Evangelischen Gesellschaft konnte er sie in einer Wohngemeinschaft für demenzkranke Menschen unterbringen, die erste in Stuttgart. Sie fand einen Platz im Pflegeheim „Haus Veronika“ und er selbst eine Aufgabe.

Inzwischen hat sich das Projekt etabliert

Inspiration für Rosen-Resli fand Schlecht beim amerikanischen Soziologen John Zeisel, der überzeugt ist, dass Alzheimer nicht Erinnerungen im Gehirn löscht, sondern nur den Zugang zu ihnen verschließt. Als wären sie in einer Schublade gefangen. Kunst sei der Schlüssel, diese Schublade zu öffnen. Vater und Sohn bauten ein Netzwerk auf, organisierten einen runden Tisch mit Vertretern der Alzheimergesellschaft, der Memory Klinik, des Demenz Supports und Heimleitern. „Hasko Weber, Intendant des Schauspielhauses, fand die Idee gut. Auch das Staatstheater wollte uns Plätze in der Oper verschaffen.“ Ebenso das SWR-Orchester und die Konzertagentur Russ.

Das erste Konzert fand in der Liederhalle statt. Die Musiker hatten die Gruppe zur Generalprobe eingeladen. „Wir wussten ja nicht, wie sich unsere Schützlinge verhalten würden“, sagt Hans-Robert Schlecht. Würden sie aufstehen und tanzen, mitsingen oder sich zum Pianisten setzen? Doch es ging von Anfang an gut.

Aus der gelungenen Generalprobe wurde die Idee der Konzertreihe „Open House“ geboren, ein Modellversuch der Stuttgarter Philharmoniker. „Wir führen Menschen aus ihrer inneren Immigration in die Kulturtempel ihrer Region. Das ist Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“, sagt Schlecht. Dabei ist es egal, ob der Alzheimerkranke früher Heino, die Beatles oder Mozart hörte. „Die Biografie interessiert uns nicht.“

Inzwischen hat sich ihr Projekt etabliert: Namhafte Unternehmen und Verlage spenden. Seit sieben Jahren zahlt die Stadt Stuttgart 15 000 Euro im Jahr, 2016 wurden Vater und Sohn Schlecht mit dem Paul-Lechler-Preis für beispielhaftes Engagement auf dem Gebiet der Inklusion ausgezeichnet.

Ausweitung auf acht Städte

Manchmal bringen sie die Musik ins Museum. Wie neulich in der Staatsgalerie, als die Gruppe vor einem Gemälde von Max Slevogt stand, das den Verführer Don Giovanni zeigt. Hans-Robert Schlecht hatte eine Überraschung organisiert. „Wir hatten einen Opernsänger engagiert, der die Champagnerarie des Verführers singen sollte.“ Als es soweit war, kamen ihm plötzlich Bedenken, ob das nicht die Alten von ihren Klapphockern hauen würde. Doch: „Sie tanzten im Sitzen und schrien vor Begeisterung.“

Rosen-Resli soll landesweit auf acht Städte ausgeweitet werden. Alle sollen vernetzt werden, Kommunen und Kulturschaffende, Kirchen, Seniorenräte, Krankenkassen, Ärzte- und Apothekerverbände, Ehrenamtliche, Stifter und Förderer. Die Schlechts unterhalten sich inzwischen auf Augenhöhe mit Gerontologen, besuchen Seminare. Trotzdem: „Wir sehen nur den Menschen, nicht die Demenz. Der muss nichts leisten, sondern sich nur freuen. Das ist alles.“

In der Staatsgalerie schart sich die Gruppe inzwischen um das Gemälde „Mittagsgebet bei der Ernte“, das Theodor Schütz 1861 gemalt hat. „Das ist schön! Das ist Kunst!“, sagt die zierliche Frau im Rollstuhl. Eine Familie sitzt unterm Apfelbaum, die Hände gefaltet, das Vesper auf der Decke ausgebreitet, im Hintergrund der Kirchturm von Herrenberg. „Schön, ja“, meint auch die Dame mit dem wallenden weißen Haar , während sich der Rest der Gruppe in die Idylle hinein zu träumen scheint.