Die liberale Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg trotzt dem US-Präsidenten – und ihrem Krebsleiden.

Washinton - Das Bild, zwei Stockwerke hoch, zeigt eine ältere Frau mit streng zurückgekämmtem Haar und einer Brille, deren rötliches Gestell an Popkultur denken lässt. Ruth Bader Ginsburg trägt die schwarze Robe, die sie auch im Gerichtssaal trägt, und um den Hals einen kunstvollen Kragen. Mit professionellem Lächeln und leicht skeptisch wirkendem Blick schaut sie auf die U Street herunter. Auf eine Straße, an der 1968 die Läden brannten, als der Mord an Martin Luther King schwere Unruhen auslöste, die aber mittlerweile als eine der angesagtesten in Washington gilt. Irgendwann im Spätsommer hat eine Künstlerin das Bild an eine karmesinrote Hauswand gemalt, und nun thront die Frau in der Robe über einer Bäckerei namens Bread Bite, als wäre sie deren Schutzengel.

 

Ruth Bader Ginsburg ist seit gut einem Vierteljahrhundert Verfassungsrichterin. Sie ist aber auch The Notorious RBG, wie ihre Fans sie in Anspielung auf den Rapper Biggie Smalls alias Notorious BIG nennen. Zwei Kinofilme beschäftigen sich mit ihrer Karriere, ihrem Kampf für die Rechte der Frau. In unzähligen Varianten gibt es T-Shirts mit ihrem (bisweilen gekrönten) Konterfei. Im Internet gibt es sogar Anleitungen, wie man sich an Halloween verkleiden muss, um als RBG um die Häuser zu ziehen. Bei „Saturday Night Live“, der Satire-Kultshow, spielte Kate McKinnon, die auch schon Hillary Clinton parodierte, eine Ruth Bader Ginsburg, die in großen Mengen Vitaminpulver schluckt, um Donald Trump noch lange die Stirn bieten zu können. Einem Mann, über den die echte RBG einmal sagte, er sei ein Falschspieler, der obendrein keinerlei Beständigkeit erkennen lasse, sondern das sage, was ihm gerade durch den Kopf gehe. Es waren Anmerkungen, für die sie sich im Wahljahr 2016 entschuldigen musste.

Die Organisatoren mussten für sie eine Sportarena mit 18 000 Plätzen anmieten

Im September, da plauderte sie in Little Rock, der Hauptstadt des eher ländlichen Bundesstaats Arkansas, auf einer Bühne über ihr Leben, und die Organisatoren mussten eine Sportarena mit 18 000 Plätzen anmieten. Der ursprüngliche Veranstaltungsort wäre dem Interesse nicht gerecht geworden. „Wir mögen sie, weil sie sich so gar nicht verstellt in einer Welt, die voll ist von Leuten, die dir etwas vorzumachen versuchen“, versuchte der Ex-Präsident Bill Clinton in seiner Laudatio das Phänomen zu erklären.

In Europa wäre so etwas kaum vorstellbar: Eine Richterin, 86 Jahre alt, ist zu einer Art Rockstar geworden, gefeiert vor allem von Jüngeren. Zum einen liegt es an der delikaten Kräftebalance am Supreme Court. Die droht auf Jahre hinaus zu kippen, falls Bader Ginsburg, die Älteste der neun auf Lebenszeit berufenen Juristen, ihre Robe an den Nagel hängt. Fünf eher konservativen Richtern stehen dort vier eher progressiven gegenüber.

Schiede RBG aus, könnte Trump Ersatz benennen. Würde der Senat die Personalie bestätigen, wären es sechs Konservative, die sich in fast jedem Streitfall gegen dann nur noch drei Progressive durchsetzen könnten. Entscheidungen wie die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, 1973 scheinbar ein für alle Male geklärt, oder die 2015 gesetzlich verankerte staatliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen könnten wieder infrage gestellt werden. Die Folge: Das liberale Amerika klammert sich an die Veteranin des Gerichtshofs wie an einen Rettungsring.

Ihr Job hat sie vier Kämpfe gegen den Krebs bestehen lassen

Ruth Bader Ginsburg hat zum vierten Mal in ihrem Leben mit einem Krebsleiden zu kämpfen. Im Sommer diagnostizierten Ärzte einen Tumor in ihrer Bauchspeicheldrüse, woraufhin sie in einem New Yorker Krankenhaus drei Wochen lang bestrahlt wurde. Am Nachmittag des Tages, an dem man sie aus der Klinik entließ, saß sie wieder an ihrem Schreibtisch. „Das Publikum kann sehen: Ich lebe noch“, witzelte sie kurze Zeit später auf einer Buchmesse in der amerikanischen Hauptstadt, wo sich die Ersten noch vor Sonnenaufgang anstellten, um RBG live zu erleben. Ihr Job, sagte sie, habe sie vier Kämpfe gegen den Krebs bestehen lassen. „Statt mich auf meine Schmerzen zu konzentrieren, wusste ich, dass ich Rechtstexte lesen und an Gutachten feilen musste.“

Auch das Arbeitsethos hat dazu beigetragen, ihre Fangemeinde anwachsen zu lassen. Zudem steht sie für Zeiten, in denen Washington zwar auch schon tiefe politische Gräben kannte, in denen der Ton längst nicht so schroff war wie heute. Mit ihrem Kollegen Antonin Scalia, mit dem sie gern in die Oper ging, verband sie eine herzliche Freundschaft, obwohl der 2016 verstorbene Richter für eine stramm rechte Auslegung der Verfassung stand. Der Supreme Court, bürstete sie neulich gegen den Strich der Polarisierung, sei von allen Arbeitsplätzen, die sie aus eigener Erfahrung kenne, derjenige mit der kollegialsten Atmosphäre. Noch so ein Satz, der klang wie aus einer verflossenen Ära.