Aus der militärischen Schwäche des IS erwachsen neue Gefahren für Europa: Sicherheitsbehörden warnen vor Risiken durch heimkehrende Terror-Touristen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Andrew Parker, Chef des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5, hat seine deutschen Kollegen am Montag versetzt. Er hatte Dringenderes zu erledigen, als in Berlin über islamistischen Terrorismus zu dozieren. Das Bundesamt für Verfassungsschutz erwartete Parker als Gastredner, doch sein Stuhl blieb leer. Der MI5 fahndet noch immer nach den Hintermännern des Sprengstoffanschlags von Manchester, bei dem vor einer Woche 22 Menschen ums Leben kamen. Zudem muss Parker erklären, warum der Attentäter Salman Abedi für seine Behörde nur eine Karteileiche war – es gab eine Akte über ihn, ermittelt wurde aber nicht. Nach einem Bericht der BBC sollen Warnungen vor Abedis Terrorplänen überhört worden sein.

 

Auch die deutschen Kollegen rätseln über ungeklärte Fragen. So soll Abedi bei Reisen im Vorfeld des Attentats zweimal in Deutschland einen Zwischenstopp eingelegt haben. Laut Verfassungsschutz handelte es sich dabei wohl um einen reinen Transit, ohne dass der britische Muslim libyscher Abstammung von hiesigen Behörden kontrolliert worden sei.

Deutschland „schwächste Stelle“ für Anaschläge?

„Andere Menschen wurden angegriffen, aber wir waren alle gemeint“, sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). Nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden richten islamistische Terroristen ihr Visier verstärkt auf Deutschland aus. Seit Sommer vergangenen Jahres sei die Bundesrepublik „in der Priorität des IS aufgestiegen“, sagt Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Ziel des IS sei allerdings nicht ein bestimmtes Land, sondern Europa insgesamt. Deutschland gelte da unter Umständen als „schwächste Stelle“ – weil es hier viele Unterstützer des IS gebe und die Sicherheitsbehörden im Vergleich mit anderen Staaten nur begrenzte Befugnisse hätten, so Maaßen.

„Virtuelles Kalifat“

Die aktuelle Generation des islamistischen Terrorismus zeichne sich durch eine deutlich erweiterte Täterklientel und veränderte Tatmuster aus. Je mehr der IS auf seinem eigentlichen Schlachtfeld im Nahen Osten militärisch unter Druck gerate, desto mehr Rückkehrer seien in Europa zu erwarten, so Maaßen. Aus Deutschland hätten sich insgesamt 930 Islamisten als Söldner des IS verdingt, etwa ein Drittel sei inzwischen wieder heimgekehrt, 145 bezahlten ihren Terrortourismus nach Syrien mit dem Leben. Der IS 2.0, so Maaßen, agiere aber zusehends wie ein „virtuelles Kalifat“. Über das Internet würden von regelrechten Headhuntern auch Kinder als Attentäter angeworben. Bevorzugte Kommunikationskanäle seien Facebook-Foren und Nachrichtendienste wie Whatsapp.

Dritte Generation islamistischer Terroristen: „Schwelle zur Tat verwzeifelt niedrig“

Die für Anschläge vorgesehenen Waffen („von der Kalaschnikow bis zum Küchenmesser“) kämen, sofern es sich um militärisches Gerät handelt, bevorzugt aus Osteuropa. Bei Sprengstoffanschlägen würden häufig „Selbstlaborate“ eingesetzt. Hier zeige sich jedoch, dass die Fernsteuerung solcher Attentäter an ihre Grenzen stoße. Es sei eben „doch nicht so einfach, Bomben nach einer Bauanleitung aus dem Internet“ zu basteln, sagt Maaßen. Allerdings sei bei den Attentätern heutiger Generation „die Schwelle zur Tatbegehung verzweifelt niedrig“, sagt Gerhard Conrad, Chef des EU-Zentrums für geheimdienstliche Analysen in Brüssel. Die Täter seien getrieben von einem vagen „Schädigungsimperativ“.

Wegen des wachsenden militärischen Drucks auf den IS werde die Koordination von Anschlägen in Europa schwieriger, sagt Gilles Kepel, Terrorismusexperte aus Paris. Er warnt: Gefängniszellen seien „die wichtigsten Brutzellen des dschihadistischen Terrorismus“. Im Falle einer militärischen Niederlage des IS gäbe es 30 000 unbeschäftigte Foreign Fighters, die sich als Terrortouristen auf den Weg machen könnten, so Conrad. Allerdings ist laut Bruno Kahl, dem Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), „noch keine Wanderung in nennenswertem Umfang in Richtung Europa erkennbar“. IS-Veteranen, so Conrad, könnten jedoch auch vom Ausland aus als „Kristallisationspunkte“ für neue Anschläge fungieren. Für ein Problem hält Maaßen die hohe Zahl nicht eindeutig identifizierter Flüchtlinge. „Wir wissen nicht, ob Gefährder unter anderem Namen nach Deutschland gekommen sind“, sagt er.

Mehr Befugnisse für die Behörden?

Mit Blick auf die Befugnisse der Sicherheitsbehörden gebe es „noch deutlichen Ertüchtigungsbedarf“. Den sieht Maaßen vor allem bei den verschlüsselten Nachrichten über Whatsapp & Co. sowie bei Restriktionen, wenn es um die Speicherung von Daten jugendlicher Verdächtiger geht. Zudem müsse der Verfassungsschutz stärker zentralisiert werden. „Unser Werkzeugkasten ist noch nicht voll“, sagt Maaßen, fügt aber hinzu: „Mit einem Mehr an Hämmern werden wir nicht in der Lage sein, eine Schraube zu ziehen.“