Der Zahlensinn

 

Mengen Solange eine Menge weniger als fünf Objekte enthält, können Menschen und Tiere sie auf einen Blick erfassen. Neben Menschenaffen sind auch Vögel und sogar einige Insekten dazu in der Lage. Ab fünf Objekten fällt es schwer, die genaue Zahl rasch zu schätzen.

Evolution Diese Einschränkung könnte einen biologischen Zweck erfüllen und sich somit im Laufe der Evolution verbreitet haben: So kann es von Bedeutung sein, ob man von zwei oder vier Feinden angegriffen wird – nicht aber, ob es sechs oder acht sind.

Zahlsysteme In vielen Völkern gibt es ab der Zahl 5 ein neues Symbol, das nicht direkt die Zahl der Objekte repräsentiert (wie beispielsweise die römische III für die Zahl 3). Die Römer wählten für die Zahl 5 das Symbol V, bei den Wikingern war es die Rune >.

Welche Mengen Menschen auf einen Blick erfassen können, bemerken Eltern meist an ihren Kindern, die ebenfalls gern mit der Reihenfolge „Eins, zwei, drei, vier, viele“ zählen. Bereits 1871 stellte der englische Wirtschaftswissenschaftler William Stanley Jevons das Ganze auf eine naturwissenschaftliche Basis, die er im Fachblatt „Nature“ veröffentlichte: Er warf eine Handvoll schwarzer Bohnen auf eine offene weiße Schachtel zu und schloss in dem Moment die Augen, als das Gemüse aufschlug.

Seine Schätzung über die in der Schachtel gelandeten Bohnen überprüfte er nach dem Öffnen der Augen durch Nachzählen. Nach 1027 Bohnenwürfen zeigte die Statistik eindeutig, dass der Brite bis zu vier in der Schachtel gelandete Bohnen zuverlässig erfasste. Ab fünf dagegen funktionierte das Schätzen nicht mehr.

Auch Tiere scheinen diesen eingeschränkten Zahlensinn zu haben, entdeckte bereits in den 1940er Jahren Otto Koehler an der Universität Freiburg. Jedenfalls lernten Tauben und Dohlen durchaus, dass hinter einer mit drei Punkten versehenen Klappe eine schmackhafte Belohnung auf sie wartete, wenn der menschliche Versuchsleiter ihnen einige Zeit vorher ebenfalls drei Punkte gezeigt hatte.

Im Laufe der Jahre kamen weitere Experimente mit anderen Arten dazu. Das Ergebnis war jeweils ähnlich: Waschbären und Delfine, Affen und Singvögel erfassen kleine Mengen auf einen Blick, während ihr offensichtlich angeborenes Schätzvermögen sie im Stich lässt, wenn fünf oder mehr Objekte rasch erfasst werden sollen. Schimpansen schaffen es sogar, kleine Mengen nach ihrer Größe zu ordnen.

Seite 3: Weniger Nervenzellen heißt weniger Sinn für Zahlen?

Der Bienenforscher Hans Gross machte den Test mit Honigbienen

„In der Natur ist dieses rasche Erfassen kleiner Mengen unter Umständen lebenswichtig“, erklärt Hans Gross am Beispiel von Steinzeitmenschen: Stehen diese auf den Savannen Afrikas plötzlich einer Gruppe Löwen gegenüber, müssen sie blitzschnell entscheiden. Gegen ein oder zwei Raubtiere hat man vielleicht eine Chance. Stehen aber vier oder mehr Großkatzen gegen einen, ist vielleicht das Erklimmen eines nahen Baumes die bessere Alternative. Mehr als vier Objekte braucht man also nicht genau abzuschätzen.

Ähnlich geht es auch einem Vogel, der auf einen Blick sieht, ob noch vier Eier im Nest liegen oder ob das Eichhörnchen vielleicht einen Teil des werdenden Nachwuchses geholt hat. Fehlen Eier, legt sie der Vogel möglicherweise nach. Ein Schimpanse interessiert sich dafür, ob an einem dünnen Ast nur drei Früchte hängen und er daher den riskanten Versuch besser abbricht, sich zu ihnen zu hangeln. Hängen am nächsten Ast nämlich vier oder mehr Früchte, lohnt sich das Unternehmen dort viel eher.

Nun hat ein Schimpanse rund 20 Milliarden Nervenzellen im Gehirn und entsprechend große Kapazitäten zum Schätzen kleiner Mengen. Hans Gross interessierte sich daher brennend dafür, ob eine Honigbiene mit nur einer Million Nervenzellen im Denkorgan ähnlich schätzt. Gemeinsam mit seinem Würzburger Kollegen Jürgen Tautz und Forschern der Universität in Canberra in Australien dachte er sich daher einen Test für die Insekten aus.

Seite 4: An Großen Mengen scheitern Insekten leicht

Menschen erkennen beim Würfeln die Zahlen am Muster

Die Bienen fliegen zunächst in eine kleine Kammer, in der eine bestimmte Zahl blauer Punkte dargestellt ist. Nach einem Meter durch einen Tunnel müssen sie sich zwischen zwei Kammern entscheiden, von denen eine mit der vorher gesehenen Punktzahl gekennzeichnet ist, während die andere mehr oder weniger Punkte aufweist. Nach rund zwanzig Versuchen haben die Bienen gelernt, dass in der Kammer mit der gleichen Punktzahl immer ein Schälchen mit leckerem Zuckerwasser auf sie wartet, während sie in der Kammer mit einer anderen Menge von Punkten leer ausgehen.

Hatten sie vorne drei blaue Punkte gesehen, flogen sie in Zukunft daher zielstrebig die Kammer mit ebenfalls drei Symbolen weiter hinten an. Das klappte auch, wenn die Anordnung der Punkte vorne anders als hinten war. Oder wenn vorne zwar blaue Punkte zu sehen waren, hinten aber die entsprechende Zahl gelber Zitronen oder grüner Blätter oder lila Blüten. Ähnlich wie Wirbeltiere scheinen also auch diese Insekten kleine Mengen auf einen Blick zu erfassen, an großen aber scheitern sie leicht.

Ganz ähnlich registrieren übrigens Menschen bei Würfelspielen die Fünf und die Sechs nicht an der Menge der Punkte, sondern am Muster. Spieler von Fantasy-Rollenspielen sehen auf Würfeln mit acht oder zwanzig Seitenflächen Ziffern. „Mit der Erfindung der arabischen Zahlen im 13. bis 15. Jahrhundert hatte die Schätzerei daher ein Ende“, erklärt Hans Gross.

Seite 5: Der Zahlensinn

Der Zahlensinn

Mengen Solange eine Menge weniger als fünf Objekte enthält, können Menschen und Tiere sie auf einen Blick erfassen. Neben Menschenaffen sind auch Vögel und sogar einige Insekten dazu in der Lage. Ab fünf Objekten fällt es schwer, die genaue Zahl rasch zu schätzen.

Evolution Diese Einschränkung könnte einen biologischen Zweck erfüllen und sich somit im Laufe der Evolution verbreitet haben: So kann es von Bedeutung sein, ob man von zwei oder vier Feinden angegriffen wird – nicht aber, ob es sechs oder acht sind.

Zahlsysteme In vielen Völkern gibt es ab der Zahl 5 ein neues Symbol, das nicht direkt die Zahl der Objekte repräsentiert (wie beispielsweise die römische III für die Zahl 3). Die Römer wählten für die Zahl 5 das Symbol V, bei den Wikingern war es die Rune >.