Immer mehr Künstler organisieren sich jenseits etablierter Strukturen. Die StZ stellt Künstlerkollektive vor: Beim Teilchenbeschleuniger aus Stuttgart zucken die Füße, schlackern die Beine und wirbeln die Hände durch die Luft.

Stuttgart - Die Mittagshitze kriecht auf das rostbraune Postgebäude am Rosensteinpark, auf dem Parkdeck glühen die Motorhauben, die Luft flirrt. Ein paar Postangestellte huschen ins Innere und spähen in den verwinkelten Fluren nach Abwechslung – da ertönen aus einem Raum deutsche Psalme: Eine kleine Tänzergesellschaft hat sich zu den Proben des Stücks „Cantus Firmus“ eingefunden.

 

Es ist der Stadt zu verdanken, dass ein Postgebäude zugleich ein Ort der Kunst sein kann. „Ich gehe etwa ein Jahr lang mit einem Stück schwanger“, sagt Katja Erdmann-Rajski, die Leiterin von „Campus Firmus“. Nach der Idee geht es an die Organisation, an das Werk vor dem Kunstwerk: Proberaum, Technik, Kostüme und Bühne müssen vorbereitet, Publikum und Kritiker angelockt werden. Da dies ein einzelner Künstler kaum zu leisten vermag, leistet diese Vorarbeit meist ein Netzwerk.

„Wir schließen uns projektweise zusammen“, sagt die Performerin Antje Jetzky. Wie Erdmann-Rajski gehört sie zur freien Szene. Beide sind an kein Theater- oder Opernhaus gebunden. Freie Künstler spielen heute auf dieser und morgen auf jener Bühne. Ein Stammpublikum kann sich so nur schlecht etablieren.

Eine Art virtuelles Künstlerhaus

Deswegen gründete die freie Stuttgarter Szene 2011 den Teilchenbeschleuniger: eine Art virtuelles Künstlerhaus, das der Flüchtigkeit der zahllosen Projekte eine feste Adresse entgegensetzt. Unabhängig vom Ort, kann man jederzeit nach seinem Lieblingskünstler oder Lieblingsstück suchen. Die gemeinsame Webseite macht es möglich.

Der Teilchenbeschleuniger versammelt mehr als hundert Künstler unter sich; das Kunstprogramm ist dementsprechend vielfältig: zeitgenössischer Tanz, Sprech- und Figurentheater, ein Kinder- und Jugendprogramm – „Wir bieten eine enorme Bandbreite“, sagt Isabelle Löffler, Pressereferentin des Teilchenbeschleunigers.

Ihre Stelle, die von der Stadt finanziert wird, soll die freien Künstler entlasten, ja beschleunigen und dann – wie die Atome in einem Teilchenbeschleuniger – dazu animieren, etwas Neues entstehen zu lassen.

Es schlackern die Beine, es hebeln, fächeln, wirbeln, die Hände

Jede Künstlergruppe, die zum Teilchenbeschleuniger zählt, ist immer noch autonom: „Das Konzept erarbeite ich gemeinsam mit dem Dramaturgen. Er erstellt die Programmhefte, die Texte – alles ehrenamtlich“, sagt Katja Erdmann-Rajski. Auch die Tänzer wählt sie für ihre Projekte selbst aus.

„Das Thema ist die Unabhängigkeit der einzelnen Körperteile“, ruft Katja Erdmann-Rajski den Tänzern bei den Proben zu. Es zucken die Füße, es schlackern die Beine, es recken sich die Arme, es hebeln, fächeln, wirbeln die Hände, mal lustig und irre, mal bunt und wild, mal wirr durcheinander, mal ruhig und allein, ein Tanzen und Denken nach der Musik.

„Wir müssen anbieten, anbieten, anbieten“

Es ist erst der vierte Tag der sechswöchigen Proben für „Cantus Firmus“. Noch sind die Bewegungen tänzerische Rohlinge. Aber man kann nur bestaunen, mit welcher Eloquenz ein Körper Geschichten erzählen kann. Katja Erdmann-Rajski bestimmt, wie eine Idee künstlerisch umzusetzen ist. Aber auch die Tänzer bringen sich ein: “Wir müssen anbieten, anbieten, anbieten“, sagt Breakdancer Levent Gürsoy.

Es ist Pause, zwei Tänzerinnen hocken sich auf das Parkdeck, unmittelbar darunter sind die Abstellgleise des Stuttgarter Bahnhofs zu sehen, die Waggonreihen schimmern feurig. “Ich wollte kein Rädchen mehr sein, das immer funktionieren muss“, sagt Tänzerin Alexandra Brenk. Im Alter von acht Jahren begann sie mit dem Balletttanz, später schaffte sie es zu einer Festanstellung – ihre Sache war das aber nicht. Für manche Künstler sind die freie Szene und Netzwerke wie der Teilchenbeschleuniger eine gute Alternative.

„Cantus Firmus“, Premiere: 4. September 2012 um 19 Uhr im Theaterhaus Stuttgart