Die Zahl der Kundgebungen und Demos in der Landeshauptstadt ist 2010 sprunghaft gestiegen – und seither kontinuierlich hoch. Das liegt nicht nur am Bahnprojekt Stuttgart 21.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart - Thomas Haenschen findet, dass es wichtig ist, auf die Straße zu gehen für seine Belange. Das Versammlungsrecht, im Artikel acht des Grundgesetzes definiert, ist für ihn ein hohes Gut. Dennoch findet er es manchmal etwas anstrengend, dass in Stuttgart so viele Menschen so oft demonstrieren – wenn deren Weg durch die Eberhardstraße führt. Denn Haenschen betreibt dort sein Juweliergeschäft Jacobi. „Kann es denn nicht mal eine andere Route sein?“, fragt der Händler.

 

Haenschen bekommt nur einen Bruchteil dessen mit, was in Stuttgart an Versammlungen stattfindet. Nämlich jene mit einem Aufzug – so heißt ein Demozug –, der von der Querspange zum Marktplatz oder in ähnliche Richtungen führt. Insgesamt gehen in der Landeshauptstadt pro Jahr bei 1300 bis 1400 Versammlungen Menschen für oder gegen etwas auf die Straße. „Auf diesen Wert hat es sich im Laufe der Jahre eingespielt“, sagt Stefan Prägert vom Ordnungsamt.

Vor dem S-21-Protest war viel weniger los in der Stadt

Dabei hat Stuttgart in den zurückliegenden Jahren eine Entwicklung genommen, die man nicht umfassend erklären kann, sondern eher als Phänomen unserer Zeit wahrnehmen muss: Die Zahl der Demos in Stuttgart ist im Jahr 2010 sprunghaft angestiegen. Bewegten sich die Zahlen in den Jahren davor um die 400 bis 600 pro Jahr, waren es plötzlich mit knapp 1200 etwa doppelt so viele. Kein Wunder, mag man sagen, war das Jahr 2010 doch das, in dem der Protest gegen Stuttgart 21 Fahrt aufnahm. Aber das ist eben nur ein Faktor. „Hinzu kommt, dass unsere Welt insgesamt unruhiger geworden ist“, sagt Prägert. Konflikte in der Türkei zum Beispiel schlagen sich auch hierzulande nieder. Außerdem sei die Landeshauptstadt nicht nur zentral, sondern auch ein Ort politischer Entscheidungen. Deswegen würden viele Gruppen, die landesweit demonstrieren wollen, herkommen. Jeder dieser Faktoren erkläre einen Teil der gestiegenen Zahlen.

Zwei Besonderheiten dieser Zahlen muss man kennen. Zum einen ist es vor allem in politisch linken Kreisen üblich, bei Gegendemos gegen Veranstaltungen aus dem rechten Lager eine Reihe von Versammlungen an verschiedenen Stellen anzumelden. Das soll wohl die Gruppe für die Polizei unberechenbar machen und ein Stören der Ursprungsveranstaltung erleichtern. „In solchen Fällen zählen wir dann nur die tatsächlich zustande gekommenen Versammlungen“, so Prägert. Dann bestehe noch die Möglichkeit der Spontanversammlung: „Diese zählen wir mit, aber dazu müssen wir ja erst mal davon erfahren.“

Dabei räumt Prägert mit einem Missverständnis auf: Oft werde von „Genehmigungen“ von Versammlungen gesprochen. „Das gibt es nicht“, sagt Prägert. Das Grundgesetz garantiert die Versammlungsfreiheit grundsätzlich, es bedarf keiner Erlaubnis. „Eine Versammlung kann angemeldet oder nicht angemeldet sein.“ Die Anmeldung habe einen Vorteil: „Mit einem Versammlungsbescheid vom Amt in der Hand hat man es einfacher“, sagt Prägert. „Eine Spontandemo muss dem Verkehr Vorrang gewähren“, erläutert Prägert. Für angemeldete kann man absperren.

Laut der Polizei sind die wenigsten Versammlungen konfliktträchtig

Da kommt dann auch die Polizei ins Spiel, für die es verschiedene Abstufungen gibt: Wenn der Verkehr zu regeln ist, muss sie eingreifen. Eine Stufe darunter – vom Aufwand her betrachtet – stehen für die Beamten Demos, die an einem Ort bleiben, aber aus Sicherheitsgründen beobachtet werden müssen – weil es zum Beispiel um einen Konflikt wie den zwischen Türken und Kurden geht und verfeindete Gruppen dazukommen können. Dann bleiben Streifen in der Nähe. Wenn es nicht so hoch hergeht, schaut mal eine Streife vorbei und lässt sich den Versammlungsbescheid zeigen. „Manche ganz kleine Versammlung bekommen wir vielleicht nicht mal mit“, sagt der Polizeisprecher Olef Petersen.

Die Kategorie der Versammlungen, bei denen man Gruppen voneinander fernhalten müsse – wie die Anhänger der Antifa und die Vertreter der Identitären Bewegung unlängst auf dem Schlossplatz – sind für die Polizei die aufwendigsten. „Unser Auftrag ist es, für alle die Versammlungsfreiheit zu schützen – ungeachtet der politischen Ausrichtung“, sagt Petersen. Diese Einsätze machten aber „den geringsten Anteil am Demogeschehen in der Stadt“ aus, betont er.

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Obwohl es also in den allermeisten Fällen friedlich zugeht, schließt Thomas Haenschen seinen Laden zu, wenn eine Demo durch die Eberhardstraße zieht. „Nicht wegen der Demonstranten. Aber im Gewühl könnte ein Dieb leicht verschwinden, der bei mir zugreift.“ Ein paar Häuser weiter sehen es seine Kollegen im Trauringgeschäft Anne Korn entspannter: „Wenn es zu laut wird, unterbrechen wir eben das Beratungsgespräch für ein paar Minuten“, sagt der Verkäufer Tobias Braun.