Das verschollen geglaubte kollektive Kriegstagebuch von 1940 liegt sicher verwahrt im Sindelfinger Stadtmuseum. Und es gibt noch eine Überraschung.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Sindelfingen - Museumschefin Illja Widmann hebt das Vitrinenglas ab, schließt die Tür auf und nimmt das zerschlissene Buch heraus. Das Stadtmuseum Sindelfingen ist im Besitz eines einzigartigen Dokuments, das noch vor kurzem von vielen als verschollen angesehen wurde. Es ist das so genannte „Rundbuch“ des 1940er Jahrgangs der Adolf-Hitler-Oberschule Böblingen, heute das Goldberg-Gymnasium in Sindelfingen. Die Schüler hatten vereinbart, dort ihre Kriegserlebnisse einzutragen. Für sechs der 20 Schüler sind diese Eintragungen auch die letzten greifbaren Lebenszeugnisse, denn sie waren im Krieg gestorben oder an den Kriegsfolgen – wie Hans Steisslinger, der Sohn des berühmten Böblinger Malers Fritz Steisslinger, der offensichtlich Zeuge geworden war des Massenmords, den die SS und die Wehrmacht an den Juden verübten. Er „stand am Grab erschossener Juden“, vertraute er dem kollektiven Tagebuch an.

 

Trostlose Winternacht

In das Buch sind sind die Erinnerungen in deutscher und in lateinischer Schrift eingetragen, Fotos der Soldaten sind eingeklebt, und manchmal auch von der Front. In den ausführlichen Eintragungen geht es meist um Privates, nur wenig schimmert vom Grauen des Krieges durch: „Fast jeder von uns draußen hat mal eine trostlose Winternacht gehabt so wie ich. In der furchtbaren Nacht habe ich zwei Worte in mein Tagebuch geschrieben: Herrgott! Herrgott!“, schrieb ein Soldat.

Die Einträge schwanken zwischen Hurra-Patriotismus und Anekdotischem, sie zeigen aber ganz deutlich, wie der Krieg die Menschen verändert. So wird auch der Krieg selbst zum Gegenstand der Reflexionen. Als die Böblinger Altstadt zerstört wurde, bekamen viele Soldaten einen so genannten „Bombenurlaub“. An diesem Tag notierte ein Soldat über den Krieg: „Er musste kommen – diese Erkenntnis nimmt ihm aber nichts von seiner Grauenhaftigkeit.“

Zwei Soldaten und ein Kind mit Gasmasken

Das Buch ist aus Privatbesitz ins Sindelfinger Stadtarchiv gelangt und war 2013 an das Stadtmuseum übergegangen. Illja Widmann, die Leiterin des Sindelfinger Stadtmuseums, wollte eine Serie von 15 Vitrinen zum 20. Jahrhundert gestalten und hatte das Rundbuch als Leitobjekt für den Zweiten Weltkrieg gewählt. Über dem Buch hängt eine Kinderzeichnung aus dem Jahr 1936, man sieht zwei Soldaten und ein Kind mit Gasmasken. Sicherlich sollten die Kinder schon in dieser Zeit auf den künftigen Krieg vorbereitet werden.

Und es gibt noch eine weitere Überraschung. Bislang war der Herausgeber, der Sindelfinger Pädagoge und Historiker Michael Kuckenburg, davon ausgegangen, jenes Rundbuch sei das einzige Dokument dieser Art in Deutschland. Doch inzwischen hat Illja Widmann herausgefunden, dass es noch ein weiteres Rundbuch gibt, das des Abiturs-Jahrgangs 1939, das inzwischen auch ins Stadtarchiv gelangt ist. Im Gegensatz zum Rundbuch des Jahrgangs 1940, das unter dem Titel „Restloser, verzehrender Einsatz für Deutschland“ im Silberburg-Verlag 1991 erschienen ist, wartet das Rundbuch des Jahres 1939 noch auf eine Bearbeitung.