Ist Stuttgart bei der psychiatrischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen Schlusslicht in der Republik? Eine Gruppe von niedergelassenen Fachärzten widerspricht dem vehement. Sie werfen der städtischen Psychiatrie vor, diese forciere einen Verdrängungswettbewerb.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Es ist ein seit einigen Jahren schwelender Konflikt, der aufgebrochen ist, seit die Stadt die Erweiterung ihrer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bad Cannstatt plant. Bei der Vorstellung der Pläne hatte der Ärztliche Direktor, Michael Günter, nicht nur den eklatanten Mangel an Klinikbetten in dem Bereich beklagt, auch das gravierende Defizit an niedergelassenen Fachärzten in der Stadt war Teil der Darstellung. Kurz darauf bestätigte die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Baden-Württemberg die „extreme Unterversorgung“ mit Kinder- und Jugendpsychiatern in der Region, der Versorgungsgrad liege bei nur 53,1 Prozent. Es war die Rede von der „am schlechtesten versorgten Großstadt“ der Republik.

 

Inzwischen hat sich der Blick auf die Lage etwas geändert. „Die Versorgungssituation stellt sich ziemlich anders dar, die Bedarfsplanung gibt nur ein unzureichendes Abbild“, sagt KV-Sprecher Kai Sonntag.

Unzufriedenheit seit Jahren

Dieser Bewusstseinswandel geht auf die Aktivitäten einer Gruppe von Stuttgarter Kinder- und Jugendpsychiatern zurück. Sie sind seit Jahren unzufrieden mit der Entwicklung in ihrem Berufsfeld. „Das ist nicht so. Das können wir nicht akzeptieren“, sagt Barbara Weiß über die Aussage von der angeblich am schlechtesten versorgten Großstadt. Die Ärztin praktiziert seit drei Jahrzehnten in Vaihingen. Tatsächlich gibt es in Stuttgart und in der Region weit weniger Kinder- und Jugendpsychiater als sich hier niederlassen könnten. Aber in Stuttgart müsse man berücksichtigen, dass es hier auch eine Reihe von psychologischen und psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten gebe. Auch dort werden für Kinder und Jugendliche Abklärungen und Therapien etwa bei Ängsten, depressiven Störungen, bei psychosomatischen Problemen, bei ADHS oder bei Essstörungen angeboten.

Das eigentliche Problem für die hiesigen Kinder- und Jugendpsychiater aber ist die Entwicklung der sogenannten Psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA), in der Region etwa in Esslingen, Ludwigsburg und Böblingen, vor allem aber in Stuttgart. Angesichts der wachsenden Zahl von jungen Menschen, die eine psychiatrische Behandlung benötigen, müssten die Praxen der niedergelassenen Fachärzte eigentlich überlaufen. Doch das Gegenteil trifft zu. „Die Fallzahlen sind zurückgegangen“, sagt Barbara Weiß. Das gilt in geringem Umfang für das ganze Land, wie das Sozialministerium unlängst in der Antwort auf eine Anfrage erklärt hat. In Stuttgart sind die Rückgänge aber höher. Bei Barbara Weiß liegt das Minus seit einigen Jahren bei etwa zehn Prozent. „Seit die PIA sich so deutlich ausweitet“, sagt die Kinderpsychiaterin.

Starke Rückgänge in den Praxen

Christoph Wilnhammer, der seit eineinhalb Jahrzehnten eine Praxis im Stuttgarter Westen betreibt, hat seit einigen Jahren 15 bis 20 Prozent weniger Patienten. „Das ist enorm“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater, der in seiner Praxis auch sozialpädagogische, psychologische und heilpädagogische Mitarbeiterinnen beschäftigt. Wilnhammer hat sogar schon überlegt, wegen dieser Entwicklung mit seiner Praxis aus Stuttgart wegzuziehen. Auch er führt die Rückgänge auf die Aktivitäten der PIA im Zentrum für seelische Gesundheit (ZSG) der Stadt in Bad Cannstatt zurück. Wie seine Kollegin Weiß und die Sillenbucher Kinderpsychiaterin Ines-Sabine Becker spricht Christoph Wilnhammer von einer „Expansionspolitik“ des ZSG, ja sogar von einem „Verdrängungswettbewerb“.

Gestützt wird diese Einschätzung von Zahlen der AOK für Stuttgart, der größten Krankenkasse in der Landeshauptstadt. Danach ist die Zahl der in der PIA behandelten Kinder und Jugendlichen hier zwischen 2013 und 2018 um 46 Prozent gestiegen. Bei den Niedergelassenen betrug das Plus nur fünf Prozent, zwischen 2013 und 2017 verzeichneten diese aber sogar rund zehn Prozent weniger Patienten. Dass daraus doch noch ein gewisser Zuwachs wurde, ist wohl darauf zurückzuführen, dass im Jahr 2018 drei neue Kinder- und Jugendpsychiater in der Stadt tätig waren, einer in dem an die Psychiatrie in Bad Cannstatt angeschlossenen Medizinischen Versorgungszentrum und zwei, die zuvor auch am ZSG gearbeitet haben. Somit verteilt sich die Fallzahl nun auf acht statt auf bisher fünf niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater.

Leichterkrankte in der Klinikambulanz?

Die drei niedergelassenen Ärzte werfen den Verantwortlichen in Bad Cannstatt vor, dass diese, anders als im System vorgesehen, „den Versorgungsauftrag der PIA unzulässig auf viele Leichterkrankte ausdehnt“. So haben sie es schon vor einigen Jahren an den Ärztlichen Direktor Michael Günter geschrieben. Geändert habe sich seither nichts. So gehörten etwa die Abklärungen, ob ein Kind an ADHS, Autismus, Hyperaktivität oder an einer Angststörung leide, „in die Praxen der Niedergelassenen“, finden die drei Mediziner. „Aber die nehmen jedes Krankheitsbild“, ärgert sich Ines-Sabine Becker über die Praxis des ZSG in Bad Cannstatt. So führt die Kinder- und Jugendpsychiatrie auf ihrer Internetseite auch alle diese Krankheitsbilder auf, bis hin zur Computerspielsucht, und wirbt dort für ihre Spezialsprechstunden. „Die Patienten, die ich dorthin überwiesen habe, sind nicht zurückgekommen“, sagt Becker, als Beispiel für ein fehlendes Miteinander von stationärem und ambulantem Bereich in Stuttgart.

„Mir als ambulant versorgendem Facharzt wird langsam aber sicher das Wasser abgegraben durch die öffentliche Hand“, kritisiert Christoph Wilnhammer mit Blick auf die Pläne des Klinikums für das ZSG. „Und die kassenärztliche Basisversorgung wird bedroht.“ Das sieht auch Katharina Schönthal, die Regionalsprecherin des Berufsverbands in Baden-Württemberg, so. „Die stationären Angebote werden in den ambulanten Bereich ausgebaut“, erklärt die Kinder- und Jugendpsychiaterin aus Tübingen. Das Beispiel Stuttgart betrachtet sie als besonders ausgeprägten Fall einer allgemeinen Entwicklung.

Wirtschaftliche Gründe?

Was den Niedergelassenen dabei sauer aufstößt, ist nicht nur, dass ihnen durch stationäre Einrichtungen Patienten entzogen werden, sondern dass diese dafür auch noch deutlich höhere Sätze abrechnen können, die Kosten damit sogar höher sind. Katharina Schönthal sieht dafür handfeste wirtschaftliche Gründe der Kliniken. „Die PIA-Leistungen sind genau das Zubrot, das sie brauchen.“ Auch Christoph Wilnhammer ist überzeugt: „Da kommt Geld rein.“ Bereits vor geraumer Zeit haben die Stuttgarter Kinder- und Jugendpsychiater dem Kollegen Günter schriftlich mitgeteilt, man habe den Eindruck, dass der Ausbau der PIA nicht der behaupteten Unterversorgung des Ballungsraums geschuldet sei, „sondern einem einseitigen Verfolgen des Klinik- und Trägerinteresses“.

Im damaligen Schreiben hieß es noch, man wolle „eine Eskalation des Konflikts vermeiden“. Diese Haltung haben die Kinder- und Jugendpsychiater offenbar aufgegeben. Ines-Sabine Becker sagt heute: „Wenn das Modell der niedergelassenen Praxis nicht aussterben soll, müssen wir ein Stück weit gegen die Kliniken kämpfen.“