Die Kultur des Scheiterns ist auch in Deutschland zu einem – allerdings oft missverstandenen Begriff – geworden. Warum es sich lohnt, den Weg zu einer Kultur der zweiten Chance zu gehen.

Stuttgart - Über das Scheitern zu sprechen, ist en vogue. Unternehmensgründer berichten über ihre gescheiterten Vorhaben auf Fuck-Up-Nights vor einem großen Publikum und Webseiten inszenieren gescheiterte Gründer positiv. Und auch in etablierten Unternehmen ist das Thema angekommen, wenn dort unter dem Schutzschirm einer Fehlerkultur Spielwiesen für Innovation eingerichtet werden, auf denen man sich einfach einmal ausprobieren darf. Und zwar ohne schon im Vorfeld zu wissen, wie weit die eigene Idee trägt.

 

Scheitern ist dabei durchaus ein vielschichtiges Phänomen und hängt auch von der Wahrnehmung des Einzelnen ab. Das reicht von der Unmöglichkeit, überhaupt einen einzigen Kunden überzeugt zu haben, bis hin zum Produktrückruf oder einem verpassten Börsengang.

Scheitern ist Teil einer unternehmerischen Kultur

Mit dem Scheitern angemessen umzugehen, ist also Teil einer unternehmerischen Kultur und so wundert es nicht, dass das Thema auch von der grün-schwarzen Landesregierung Baden-Württembergs in ihrem aktuellen Koalitionsvertrag ausdrücklich angesprochen wird: „Wir wollen keine Potenziale mehr verschenken. In Baden-Württemberg soll eine Innovationskultur einziehen, die auch eine ‚Kultur des Scheitern Dürfens‘ ist.“ Begründet wird dies damit, dass aus dem Scheitern gelernt werden kann und dass Unternehmensgründer aus ihren gescheiterten Projekten Erfahrungen mitnehmen, die den nächsten Versuch erfolgreicher machen können.

Und in der Tat, prominente Beispiele legen nahe, dass dem wirklich so sein kann. So hat Max Levchin, der Mitgründer des bekanntesten Online-Bezahl-Dienstes PayPal mit inzwischen mehr als 18.000 Angestellten, vier gescheiterte Unternehmensgründungen benötigt, bevor er mit seiner fünften Unternehmensgründung radikal verändert hat, wie viele Menschen heute im Internet ihre Rechnungen begleichen.

Deutschland tut sich mit der Kultur der zweiten Chance schwer

Sich mit dem Scheitern nicht wohl zu fühlen und Gescheiterte zu brandmarken, ist jedoch typisch für die deutsche Kultur und scheint tief in unserer kulturellen DNA verankert. Über etlichen historischen Altstädten ragt noch heute mahnend der Schuldturm empor, in dem sich früher säumige Schuldner wiederfanden, und noch im Kaiserreich wusste ein ehrbarer Kaufmann, was er zu tun hatte, wenn er geschäftlich gescheitert war: Er regelte seinen Nachlass und erschoss sich. Vor diesem Hintergrund ist es nicht einfach, eine Kultur der zweiten Chance aufleben zu lassen. Dabei ist diese nicht nur wichtig, um Gründern den Erfolg im zweiten oder dritten Anlauf zu ermöglichen.

Deutschland ist seit längerem weltweit eines der Länder mit der niedrigsten Rate an Unternehmensgründungen überhaupt und das liegt auch an der weit verbreiteten Angst vor dem Scheitern. Für viele liegt die Schwierigkeit gar nicht in der zweiten Chance – es wird nicht einmal die erste Chance auf den Erfolg genutzt, weil man sich zu viele Gedanken über einen möglichen Misserfolg macht. Das ist nicht nur für den einzelnen tragisch, der so unter seinen Potenzialen bleibt. Das ist auch gesamtgesellschaftlich ein nicht tragbarer Zustand, da Deutschland so potenzielle Arbeitsplätze, Innovationen und Wachstumschancen verliert.

Skepsis bei Kultur der zweiten Chance beruht auf Zerrbild

Selbstredend gibt es gute Gründe, eine Kultur der zweiten Chance skeptisch zu sehen. Häufig kommt die Frage auf, ob nun jegliches Versagen in den Himmel zu loben sei. Das gilt natürlich nicht, vielmehr geht es darum, den Versuch etwas Neues umzusetzen auch anzuerkennen – was etwas komplett Anderes ist, als unmotiviertes und nachlässiges Arbeiten, welches zum Scheitern führt, auszuzeichnen. Auch geht es nicht darum, Unternehmern, die nachweislich kriminell gehandelt haben – man denke nur an den Fall Schlecker – noch eine weitere Chance einzuräumen. Es geht vielmehr um die innovativen Pioniere, die gesellschaftliche Unterstützung brauchen.

Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass kriminelles unternehmerisches Verhalten und auch die so gefürchtete Insolvenz Extremfälle sind. Von zehn Unternehmen, die in Deutschland die Geschäftstätigkeit aufgeben, geht nur eines in die Insolvenz. Die verbleibenden neun treten einfach aus dem Markt aus. Gerade diese Unternehmer sollen von einer Kultur der zweiten Chance profitieren, damit sie weiterhin Neues wagen wollen und eines Tages vielleicht den weltverändernden Treffer landen.

Nicht nur einfach positiv übers Scheitern reden

Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es mehr, als einfach nur positiv über das Scheitern zu sprechen. Eine repräsentative Studie der Universität Hohenheim unter Deutschen im berufstätigen Alter gibt an, dass 40 Prozent der Befragten die Meinung teilen, man solle kein Unternehmen gründen, wenn das Risiko des Scheiterns bestünde. Wenn man sich klarmacht, dass jegliches menschliches Handeln, und natürlich auch das wirtschaftliche, unausweichlich mit Risiko einhergeht, so übersetzt sich diese Zahl in die simple Aussage: Man soll kein Unternehmen gründen. Denn ganz egal was der Mensch tut – es kann nicht immer funktionieren. Wer solches fordert, verleugnet die Realitäten des Lebens, und hat am Ende natürlich auch kein Verständnis für Menschen, die trotzdem ins Risiko gehen. Das muss sich ändern.

Deutschland muss also mehr über Unternehmertum lernen, darüber, was Unternehmensgründer wirklich tun und was sie antreibt. Das Verständnis von Unternehmertum ist der Schlüssel zu einer Kultur der zweiten Chance. Und dieses Verständnis muss gerade bei der jungen Generation geschaffen werden. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als zu begrüßen, dass Baden-Württemberg als einziges Bundesland neben Bayern ein Schulfach Wirtschaft für die Sekundarstufe 1 eingeführt hat. Auch Unternehmer und Unternehmensgründer finden sich im entsprechenden Bildungsplan.

Innovationen brauchen zweite Chancen

Bezeichnenderweise kommt das umfangreiche Dokument jedoch ohne einen Bezug zu Innovation aus – hier besteht offenkundig Nachbesserungsbedarf. Schüler sollen nicht auf Konformismus hin erzogen werden, sie sollen lernen, Versuch und Irrtum zu ertragen und Möglichkeiten erhalten, positiv gerade an innovativen Projekten zu scheitern. Das müssen wir ihnen zutrauen.

Der Weg zu einer Kultur der zweiten Chance ist also klar. Möglicherweise zeichnet sich hier bereits Licht am Ende des Tunnels ab. So halten im aktuellen Gründungsmonitor der KfW Bankengruppe nur noch 17 Prozent der Unternehmensgründer die Abstiegsangst bei Scheitern für ein wesentliches Hemmnis, während es im Jahr 2009 noch 26 Prozent waren. Diese zarte positive Entwicklung gilt es in Bildung, Politik und Wirtschaft weiter zu unterstützen.

Über den Autoren

Professor Dr. Andreas Kuckertz leitet an der Universität Hohenheim das Fachgebiet Unternehmensgründungen und Unternehmertum. Die Universität Hohenheim hat sich zum Ziel gesetzt, vor allem Unternehmensgründungen aus ihrer agrar- und naturwissenschaftlichen Fakultät zu unterstützen, die auf grünen und nachhaltigen Ansätzen beruhen und auch die Chancen der digitalen Transformation nutzen. Hohenheimer Unternehmensgründer lösen Probleme im Bereich der gesunden und nachhaltigen Ernährung, des Klimawandels oder des Pflanzenbaus.

Ein positiver Umgang mit dem Scheitern ist dabei Kernbestandteil der Lehre; Teilnehmer erfahren in unterschiedlichen handlungsorientierten Formaten, wie man sich über viele kleine Fehlschläge schrittweise zu funktionierenden Geschäftsmodellen vorantastet. Für seine Arbeit kooperiert das Fachgebiet mit allen relevanten Akteure des lokalen Startup-Ökosystems und hat sich auch dem Wissenstransfer aus der Universität heraus verschrieben. Dieser gelingt über wissenschaftlich fundierte Workshops, Impulsvorträge und gemeinsame Projekte mit politischen Entscheidern, Startups und etablierten Unternehmen, die in Deutschland wieder mehr Unternehmergeist und Fehlerkultur entwickeln wollen.