Drei Langzeitarbeitslose berichten in der Vesperkirche von ihrem Schicksal. Zum zweiten Mal hat dort das Format „Politiker hören zu“ stattgefunden. Die Arbeitslosen haben viele Punkte, die sie an der Politik kritisieren.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Stuttgart - Nudeln mit Soße oder gesund? Luise Jankes Leben ist jeden Tag eine Abwägung. Kann sie sich Gemüse leisten? Die Antwort ist meistens: nein. Knapp 300 Euro hat sie im Monat für Essen und ein bisschen Leben. „Ich habe drei Euro am Tag für Lebensmittel. Und davon soll ich gesund leben? Wie soll das gehen?“ Der größte Traum von Luise Janke ist, ihre Nichte und deren Familie einmal zum Essen einzuladen. „Und ich bezahle“, sagt die 59-Jährige. Doch das wird so schnell nicht passieren. „Am Schlimmsten ist die ständige Angst“, betont sie. Ein kaputter Kühlschrank, eine kaputte Waschmaschine, das bringt sie schnell in die Bredouille.

 

Menschen, die keine Arbeit haben, sind häufig ausgegrenzt, haben kaum eine Chance, am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen. Doch was brauchen sie? Die Diakoniepfarrerin Gabriele Ehrmann, seit 2018 verantwortlich für die Vesperkirche, und Martin Tertelmann vom Sozialunternehmen Neue Arbeit haben deshalb zum zweiten Mal zu dem Format „Politiker hören zu“ in die Vesperkirche eingeladen. Am Dienstagnachmittag saßen dazu die Stadträte Andreas Winter (Grüne), Michael Jantzer (SPD), Thomas Adler (SÖS-Linke-PluS), Beate Bulle-Schmid (CDU) und Ilse Bodenhöfer-Frey (Freie Wähler) in der Leonhardskirche zusammen. Moderatorin war die Politikberaterin Christina Metke.

Arbeitslose schildern ihre Lage – die Politiker hören zu

Das Prinzip der Veranstaltung ist simpel: Die Politiker sagen einmal nichts und hören nur zu. Drei Langzeitarbeitslose schilderten ihnen ihren Werdegang, aber auch, was ihnen politisch helfen würde, damit ihre Situation erträglicher wird. Immer wieder ist bei allen drei rauszuhören, dass sie die Agenda 2010 und die damit einhergehende Reform des Arbeitslosengeldes als Ursache sehen. Sie beklagen „13 Jahre Hartz IV-Chaos“. „Mein Freund Gerhard Schröder, der hat tausende in die Armut getrieben“, sagt Knut Peter Licina mit sarkastischem Unterton und ergänzt: „Ich bin gerade nicht gut auf die Politik zu sprechen.“

Von der Politik fühlen sich die Arbeitslosen vergessen. Aus Frustration sehen sie keinen Sinn mehr darin, überhaupt wählen zu gehen. Was auch ärgert? „Die Willkür auf dem Amt“, sagt Licina und verschränkt die Arme. Und, die Gesellschaft sei ungerechter geworden. Ein Daimler-Chef, der im Ruhestand um die 4000 Euro am Tag verdient, das ist für Licina eine „Sünde“. Ihn würde es schon glücklicher machen, wenn er davon am Tag nur 20 Euro abbekommen würde.

Dsa Geld reicht kaum für Miete und Essen

Ihre Forderung an die Politiker ist deshalb klar: „Erhöht Hartz IV! Wir wollen sozial und kulturell teilhaben. Das Geld reicht kaum für Miete und Essen.“ Auch wehren sie sich gegen sinnlose Maßnahmen wie den X. Lebenslaufkurs oder die Anweisung, Jobs anzunehmen, die so gar nichts mit den eigenen Qualifikationen zu tun haben. So wurde Licina als Fotograf gezwungen, sich in einem Unternehmen für Photovoltaik-Anlagen z bewerben. „Es ist gut, dass wir das mal von Betroffenen hören“, sagte Beate Bulle-Schmid dazu. Die Job-Anweisung für Licina hält sie ebenfalls für „absurd“. „Es wäre gut gewesen, jemand vom Jobcenter wäre heute auch dabei gewesen.“

Auch die anderen Politiker schienen ergriffen von den Geschichten der drei Erzähler. Hartz IV müsse man immer wieder hinterfragen, sagte Andreas Winter. Der Linke in der Runde, Thomas Adler, ist sogar dafür, dieses System wieder komplett abzuschaffen. Er habe nach der Veranstaltung im letzten Jahr Anträge gestellt, dann nie wieder etwas davon gehört. Michael Jantzer hofft auf die geplante Grundrente. „Ich bin mir sicher, wir kriegen da in dieser Koalition noch etwas hin.“ Ilse Bodenhöfer-Frey wünscht sich eine bessere Betreuung von Arbeitslosen, die dadurch von Sucht- und Alkoholproblemen betroffen sind.

Was alle drei eint? Sie alle haben einen guten Schulabschluss, teilweise sogar studiert und arbeiteten Jahrzehnte in ihrem Beruf. „Irgendwann sind sie in die Arbeitslosigkeit gerutscht und haben Probleme bekommen, weil andere Dinge passiert sind“, stellte die Moderatorin Metke fest. Aber: Sie wollen arbeiten. „Arbeit ist Teilhabe, ist Selbstbestätigung“, sagt Licina. „Man kriegt Probleme mit dem Selbstbewusstsein, fühlt sich nichts mehr wert.“ Am meisten hasst er die Vorurteile: „Hartz-IVler sind faul, wollen nicht arbeiten. So viel Halbwissen und Boshaftigkeit, das ist so schlimm.“ Selbst das Handy werde ihm von manchen nicht gegönnt.

Arbeit ist Selbstbestätigung – fällt sie weg, geraten Menschen in eine Krise

Für Luise Janke war ihre Arbeit ja sogar ein Ventil. „Als meine Eltern starben, habe ich nur geackert, geackert, geackert“, sagt sie. Damit sie nicht nachdenken musste. In dem Moment, wo die Arbeit wegfalle, komme alles hoch. Das war 2005. „Da vergräbst du dich, gehst heim ziehst die Decke über den Kopf und denkst ‚leckt mich alle am Arsch’. Da kommsch du lange nicht mehr raus“, erzählt sie den Politikern. Sie habe alles schleifen lassen, drei Jahre lang. Dann ging es bergab: Sie verlor ihre Wohnung, landete im Frauenhaus.

Sie hat dann doch eine Wohnung über die Ambulante Hilfe bekommen, konnte irgendwann in eine Maßnahme der Neuen Arbeit einsteigen, bei der Denkfabrik mitarbeiten. Das hat ihr gefallen. „Das bringt auch was. Auch damit wir nicht DIE Langzeitarbeitslosen sind, keine Masse mehr, sondern jeder ein Gesicht hat.“ Doch diese Maßnahme ist ausgelaufen im Dezember. Und jetzt? „Bin ich stinksauer“, sagt sie. „Im Januar saß ich daheim und habe Herrn Tertelmann angerufen und gesagt: Ich werde verrückt.“

Häufig ist das Alter Schuld, wenn Arbeitslose keine neue Stelle mehr finden

Das Schlimmste ist, das erzählen alle drei, keine Aufgabe zu haben. „Da oben im Kopf muss was gefordert sein“, sagt Knut Peter Licina in die Runde. Auch Helmut Winkler kennt das Problem: „Ich habe 400 Bewerbungen geschrieben. Aber da kam nichts. Nur zwei Gespräch hatte ich“, berichtet der 60-Jährige. Er war fast 30 Jahre Journalist beim Stuttgarter Wochenblatt, ihm war klar, dass er in seinem Alter trotz Weiterbildungen im Online-Journalismus kaum mehr eine Chance haben würde. Den ganzen Tage hab er sich gefragt: „Was tusch jetzt?“