Der Verein hat sich dazu entschlossen, seine Rolle in der NS-Zeit aufzuarbeiten. Das Thema wurde lange Zeit stiefmütterlich behandelt, was sich aber unter dem seit zwei Jahren tätigen Clubhistoriker Florian Gauß geändert hat.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Optisch scheint Florian Gauß doch eher in der jüngeren Geschichte des VfB zuhause zu sein. Ihm wird schließlich regelmäßig eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Stuttgarter Meistertrainer Armin Veh nachgesagt. Der Vereinshistoriker hat dann auch gleich die „passende Archivalie“, wie der Experte sagt, bei der Hand. Dazu öffnet Gauß in den Katakomben der Mercedes-Benz-Arena einen Schrank – und heraus kommen die Schuhe von Sami Khedira, der mit seinem Tor zum 2:1 gegen Energie Cottbus vor neun Jahre dem VfB die Meisterschaft sicherte. Das ist nur ein kleiner von ganz vielen großen Schätzen, die der promovierte Archäologe aus einem unsortierten Vereinsfundus gehoben und archiviert hat.

 

Florian Gauß bringt seit etwas mehr als zwei Jahren System in die VfB-Geschichte, die auch durch diverse Umzüge der historischen Abteilung in der Vergangenheit doch etwas unsortiert war. Übersichtlich sind mittlerweile die geschichtsträchtigen Gegenstände in einem Lagerraum aufgereiht. Hier der Reisekoffer von Kalli Barufka, der 1950 und 1952 mit dem VfB Meister wurde; dort der legendäre Trümmerlöwe, so etwas wie der erste Stuttgarter Stadtpokal, den der Verein 1945 unmittelbar nach Kriegsende gewann; und da noch die älteste erhaltene Vereinszeitung aus dem Jahr 1920.

Die Haaga-Chronik: historisch wie ein Sechser im Lotto

„Was mich an dieser Arbeit so fasziniert? Dass man an der VfB-Historie auch die Stadt- und Zeitgeschichte ablesen kann“, sagt Florian Gauß und hält ein ledergebundenes Mammutwerk in der Hand: die sogenannte Haaga-Chronik. Das VfB-Mitglied Albert Haaga hat darin in der Zeit zwischen 1890 und 1950 enorm sorgfältig über das Vereinsleben Buch geführt. „Diese Chronik ist historisch gesehen ein Sechser im Lotto“, sagt Florian Gauß über die Bedeutung der Sammlung.

Mit Hilfe dieses Werkes will sich der VfB nun auch den dunklen Kapiteln seiner Geschichte nähern: der NS-Zeit. Neben der Haaga-Chronik ist die Quellensammlung für die Aufarbeitung der eigenen Nazivergangenheit überschaubar. Im Archiv lagern noch Vereinschroniken aus den Jahren 1933, 1937 und 1940 sowie gesammelte Feldpostbriefe von Mitgliedern der Leichtathletik- und Hockeyabteilung. Interessiert haben diese Berichte jahrzehntelang niemanden beim VfB. „Uns ist bewusst, dass wir das Thema NS-Zeit zu lange stiefmütterlich behandelt haben“, sagt dazu der VfB-Sprecher Tobias Herwerth.

Besonders deutlich wurde das Ignorieren der braunen Flecken auf den weißen Trikots bei den Feierlichkeiten rund um ein Jubiläum. Unter dem Titel „Mythos VfB“ erinnerte der Verein 2012 mit einer Wanderausstellung an die damals 100 Jahre zurückliegende Fusion von FV Stuttgart und Kronen-Klub Cannstatt, aus der der VfB Stuttgart hervorging. Die NS-Vergangenheit kam darin lediglich mit ein unkommentierten Mannschaftsbild aus dem Jahr 1935 vor, auf dem sieben der elf Spieler den Arm zum Hitlergruß ausgetreckt hatten. Dazu wurde den Ausstellungsbesuchern noch ein Bericht aus dem „Kicker“ serviert, in dem es um das Bankett nach dem verlorenen Meisterschaftsfinale 1935 gegen Schalke ging.

Von der historischen Abteilung eines Fußball-Bundesligisten wird mehr erwartet. Was auch ein Grund für den VfB war, sich in diesem Bereich professionell und nicht mehr nur ehrenamtlich oder bestenfalls auf geringer Honorarbasis aufzustellen. Und damit kam Florian Gauß ins Spiel. Der Verbindungsmann des VfB zur eigenen Vergangenheit hat die weiterhin wandernde Mythos-Ausstellung mittlerweile um Informationen zur NS-Zeit erweitert. Bisher gibt es dazu zwei Erzählstränge. Der eine hangelt sich an Hans Kiener entlang. Der wurde 1931 Vereinsvorsitzender des VfB und war – zwei Jahre vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten – bereits Mitglied der NSDAP. 1932 stellte er den vereinseigenen Cannstatter „Platz bei den drei Pappeln“ für eine Nazi-Großveranstaltung zur Verfügung, auf der in Gregor Strasser der zu diesem Zeitpunkt neben Hitler führende NSDAP-Politiker eine Rede hielt. Der VfB-Präsident Hans Kiener, der sich zwischen 1934 bis 1945 Vereinsführer genannt hatte, wurde nach dem Krieg entnazifiziert und vom Verein bald wieder mit offenen Armen aufgenommen und in den Ältestenrat berufen.

Auf der anderen Seite ist die Geschichte des jüdischen VfB-Mitglieds Richard Ney in Bruchstücken bekannt. Ney war in der Hockey-Abteilung aktiv und floh 1941 als einer der letzten Stuttgarter Juden in die USA, wo er 1970 starb.

Austrittewelle in den Jahren 1932 und 1933

Dass die braune VfB-Vergangenheit noch in weiten Teilen unerforscht ist, macht Florian Gauß an einem Beispiel deutlich: „Mitgliederlisten zeigen, dass es 1932 und 1933 eine Austrittswelle beim VfB gab. Über die Gründe kann bisher aber nur spekuliert werden.“ So sei es auch denkbar, dass 1932 viele Mitglieder den VfB wegen des Paktes mit der NSDAP verließen. 1933 entzog dann der Verein VfBlern jüdischen Glaubens die Mitgliedschaft.

Der VfB will nun Licht in dieses Dunkel bringen und lässt die Clubgeschichte zwischen 1933 und 1945 zum Thema einer wissenschaftlichen Arbeit machen. Ein unabhängiger Historiker hat sich der Sache angenommen, der von Florian Gauß unterstützt wird. „Es ist besser, wenn sich jemand von außen darum kümmert. Bei mir würde möglicherweise der Verdacht mitschwingen, dass ich die Vergangenheit mit der Vereinsbrille betrachte und etwas beschönigen könnte“, sagt Gauß.

Gespannt darf auf die Forschungsergebnisse gewartet werden und darauf, ob diese sich mit den Recherchen des renommierten Fußballhistorikers Nils Havemann decken, der im VfB neben Schalke 04, Werder Bremen und 1860 München einen nationalsozialistischen Vorzeigeverein ausgemacht hat. Ein andere Vorwurf ist dann aber vom Tisch: dass sich der VfB vor der Aufarbeitung der Vergangenheit drückt.