Der Olympiasieger ist einer der vielen Skispringer, die derzeit unter den Folgen eines Kreuzbandrisses leiden. Wie fühlt sich der Traunsteiner in der Rolle des Zuschauers?

Oberstdorf - Andreas Wellinger hätte allen Grund gehabt, mit seiner Situation zu hadern. Ein griesgrämiges Gesicht zu machen. Seine Ruhe haben zu wollen. Denn das, was er am liebsten macht, kann er derzeit nicht: abspringen, fliegen, landen. Und genau dies musste er während seines Gastspiels bei der Vierschanzentournee in Oberstdorf immer wieder beobachten: wie andere abspringen, fliegen, landen. Gute Laune hatte der Olympiasieger trotzdem. „Man muss lernen, sich mit der Situation abzufinden“, sagte Wellinger, der sich vor einem halben Jahr in der Sommervorbereitung einen Kreuzbandriss zugezogen hat. „Natürlich gibt es Tage im Rehatraining, die weniger Spaß machen. Aber ich habe nie an dem gezweifelt, was ich tue. Das Skispringen in mir lebt. Deshalb bin ich hier.“

 

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Wellinger fühlt mit den Kollegen

In Oberstdorf absolviert Wellinger den ersten öffentlichen Auftritt seit seiner Operation, anschließend geht es weiter zum Neujahrsspringen nach Garmisch. Und sollte einer seiner Kollegen die Chance haben, nach dem letzten Springen in Bischofshofen einen Erfolg zu feiern, wird er auch noch dorthin fahren. Was nur zeigt: Wellinger ist zwar derzeit nicht auf der Schanze, aber trotzdem nicht weg. „Die Zuschauerrolle ist alles andere als schön“, sagte er, „aber interessant.“ Und sie bietet die Gelegenheit, die Hauptdarsteller nicht nur zu beobachten, sondern mit ihnen zu fühlen.

Also nahm Wellinger seinen Kumpel Markus Eisenbichler in den Arm, nachdem er sich in der Qualifikation vor dem Auftaktspringen als Fünfter aus der Krise gesprungen hatte. Er freute sich mit dem drittplatzierten Stephan Leyhe, stärkte Lokalmatador Karl Geiger den Rücken, der seine Höhenflüge endlich auch mal in der Heimat zeigen will – und er wirkte dabei nicht, als seien seine Gefühle gespielt, sondern wie einer, der sich darauf freut, bald selbst wieder Teil dieses Erfolgsteams zu sein. Auch wenn völlig offen ist, wie lange dies noch dauern wird.

Auf der Schanze gibt es nur ganz oder gar nicht

Aktuell ist an eine Rückkehr in die Anlaufspur nicht zu denken. „Nach einem Kreuzbandriss muss man die Festplatte nicht resetten, sondern völlig neu bespielen“, sagte Wellinger. „Mittlerweile bin ich nahe an normal, aber Skispringen ist halt nicht normal. Auf der Schanze gibt es nur ganz oder gar nicht, keine 50-Prozent-Sprünge.“ Drei Monate muss er sich mindestens noch gedulden: „Körper und Kopf haben weiterhin viel Arbeit vor sich, bis alles wieder funktioniert.“

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Da hilft es auch nicht, dass Wellinger genügend Leidensgenossen hat. Allein im deutschen Team gibt es in Severin Freund, David Siegel, Carina Vogt, Ramona Straub, Anna Rupprecht und Gianina Ernst sechs weitere Athlet(inn)en, die mit den Folgen von Kreuzbandrissen zu kämpfen haben. Ein Muster? Will Wellinger daraus trotzdem nicht ableiten. „Ich versuche für mich, Punkte wie das Training oder das Material zu optimieren, damit ich nicht noch einmal in eine solche Lage komme“, sagte er. „Letztlich sind es zwar allesamt schwere Knieverletzungen, aber auch lauter individuelle Fälle.“ Mit unterschiedlichen Verläufen.

Wellinger, der gefallene Star, will im nächsten Winter ins Feld der Skispringer zurückkehren. Am besten zu Beginn der Saison, nicht erst in Oberstdorf bei der Tournee. Denn eines ist trotz seines sonnigen Gemüts sicher: Gastspiele wie an diesem Wochenende eignen sich nicht für dauerhaft gute Laune.