In Deutschland gelten nicht mehr die zehn Gebote, sondern die zehntausend Verbote. Der StZ-Kolumnist Erik Raidt schreibt über den stillgelegten „Vater unser-Aufzug“ im Rathaus und mögliche Risiken auf dem Kirchentag.

Stuttgart - Die zehn Gebote gelten in Deutschland nur noch bedingt. Was in diesem Land wirklich zählt, sind die zehntausend Verbote. Es gibt Erlässe und Beschränkungen, Verordnungen, Auflagen und Warnhinweise. Pünktlich zum Start des Kirchentags haben die Verordnungen das „Vater unser“ erreicht. Oder besser gesagt: den Vater unser. Im Rathaus darf seit Montag keiner mehr mit dem Paternoster fahren, der Betrieb des Vater-unser-Aufzugs ist aus Sicherheitsgründen vorerst eingestellt worden.

 

In Stuttgart steht der Lift jetzt still, weil es Frau Nahles starker Arm so will. Eine Verordnung des Bundesarbeitsministeriums hat ein städtisches Kulturgut erledigt. Der deutsche Verwaltungsapparat erträgt es kaum, dass in irgendeiner Ecke ein Risiko lauern könnte, das behördlich noch nicht erfasst wurde. Anders ausgedrückt: Was der Apparatschik nicht weiß, das macht ihn heiß. Ihn treibt eine unstillbare Sehnsucht danach, zu regeln, was theoretisch regelbar ist. Besonders wenn es um tatsächliche oder vermeintliche Risiken geht. In Deutschland haben Fundamentalisten die Macht übernommen, sie predigen, dass die Sicherheit über allem steht.

Was ihnen fehlt, ist der Glaube. Der Glaube daran, dass Dinge nicht deshalb automatisch deshalb schief gehen, weil sich noch kein Amt gefunden hat, um eine mögliche Gefahr durch eine Verordnung für alle Zeit zu bannen.

„Kann Spuren von Religion enthalten“

Der Paternoster im Stuttgarter Rathaus hat mir den Unterschied zwischen „Glauben“ und „Wissen“ schon deutlich gemacht, als ich noch ein kleiner Junge war. Als ich ihn das erste Mal sah, stand ich unschlüssig vor dem Aufzug: Ich wusste, dass ich ihn betreten und in der Kabine einmal ganz hinauf bis zum Wendepunkt und gleich wieder hinab fahren könnte. Anders verhielt es sich mit meinem Glauben: Ich glaubte, dass am obersten Punkt des Aufzugs ein Monster lebt, dass dort auf mich wartet, um mich zu zerquetschen.

Seitdem bin ich oft mit dem Paternoster gefahren, aber niemals bis zum Wendepunkt und wieder herunter. Eigentlich geht es mir keinen Deut besser als den Beamten im Bundesarbeitsministerium. Ich weiß zwar, dass wahrscheinlich nichts passieren wird, aber ich glaube nicht recht daran. Auch beim Kirchentag bestehen übrigens erhebliche Risiken. Was dort noch fehlt, sind großflächige Warnhinweise. „Vorsicht: Diese Veranstaltung kann Spuren von Religion und anderen Inhaltsstoffen enthalten, die Sie an Ihren bisherigen Überzeugungen zweifeln lassen.“