Unser Autor Arno Einholz erzählt seine spannende Familiengeschichte – sie beginnt bei den Kreuzzügen des Mittelalters und handelt vom Leben und Überleben über die Jahrhunderte, von Diktatoren, Kriegen und Revolutionen – mit glücklichem Ausgang.

Leonberg - Im Morgengrauen des 2. September 1991 standen wir vor den Toren der ehemaligen Bundeswehrkaserne in Empfingen, und von Osten aus der aufgehenden Sonne heraus brausten zwei Tornado-Jets über uns hinweg. Meine Frau Brunhilde und ich – beide Mitte dreißig – sowie unsere Söhne Ralf (8) und Bernd (7) waren als einige der letzten Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs in Deutschland angekommen. Im wahren Sinne des Wortes hatten wir am Vortag für unsere Familie das Licht nach mehr als 870 Jahren deutscher Siedlungsgeschichte in Rumänien ausgedreht.

 

Es ist eine wechselvolle Geschichte gewesen. Nicht alle Zweige der Familie haben sich gleichzeitig dort niedergelassen, denn die Landstriche gehörten im Laufe der Jahrhunderte verschiedensten Herren. Erst wurden die Siebenbürger Sachsen in dem Hochland zwischen den Karpaten heimisch, bevor Jahrhunderte später die Vorfahren der Banater Schwaben und der Sathmarschwaben aus unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Interessen als Siedler geholt wurden.

In Transilvanien hat es angefangen

Den Anfang haben die Siebenbürger Sachsen gemacht, die Vorfahren meiner Frau. Begonnen hatte es damit, dass im Jahr 1144 Ungläubige ein kleines Nest im Heiligen Land eroberten – für Papst Eugen III. der Grund, den zweiten Kreuzzug auszurufen. Daher zog der Stauferkönig Konrad III. im Jahr 1147 mit einem Gefolge aus Edelleuten aus den Gegenden von Trier und Köln, aus Flandern, Luxemburg und Lothringen von Regensburg über Österreich, Ungarn und den Balkan nach Konstantinopel. Weil seinerzeit mit Kind und Kegel in den Krieg gezogen wurde, fragte sich der ungarische König Geza II., wieso er diese Menschen weiterziehen lassen sollte? Er versprach ihnen hinter den Wäldern (in Transsilvanien) Grund und Boden sowie als freie Untertanen reichlich Gelegenheit, gegen Heiden zu kämpfen. Ein Großteil derer, die sich auf den Weg ins Heilige Land aufgemacht hatten, wurde Siedler – übrigens, der Kreuzzug endete in einem Fiasko. Sie bauten ihre sieben großen Burgen und viele kleine rund um ihre Kirchen. Im Lauf der Jahrhunderte gab es mehr Gelegenheit, gegen Ungläubige zu kämpfen, als ihnen lieb war: Kumanen, Türken und Tataren hatten es auf ihren Wohlstand abgesehen.

Warum sie allerdings Sachsen genannt wurden und werden, weiß man bis heute nicht so richtig. Wenn ihnen aber einer aus der Seele gesprochen hat, war es Martin Luther. Bereits drei Jahre vor dessen Tod 1546 waren sie reformiert. Seine Lehre gab ihnen eine gemeinsame Sprache, ein unerschütterliches Selbstbewusstsein und eine gehörige Portion Stolz. Wer es nicht glaubt, der muss meine Frau kennenlernen.

Die Siedler mussten keine Steuern bezahlen

Bei mir ist es etwas bunter zugegangen. Als die Türken 1683 nach dem „goldenen Apfel Wien“ griffen und Europa das Kaffee-trinken beibrachten, kam sie das teuer zu stehen. Gute 30 Jahre später räumte Prinz Eugen von Savoyen mit ihren Gebieten nördlich der Donau auf. Plötzlich standen den österreichischen Kaisern riesige und äußerst fruchtbare Ländereien zur Disposition. Darunter ein Gebiet von der Größe Belgiens zwischen dem Strom Theiß und den Karpaten – das Banat.

Bald grasten dort riesige Rinderherden. Doch einige kaiserliche Beamte setzten den Viehbaronen, die sich vor den Steuern drückten, Siedler vor die Nase. Etwa 150 000 wurden gezielt bis 1780 in der Pfalz, im Elsass, in Lothringen, in Schwaben und Franken angeworben – im erzkatholischen Österreich mussten sie katholisch sein. Sie kamen gern, denn viele waren damit ihre Armut und die Leibeigenschaft los. Sie bekamen ein Haus, Boden, landwirtschaftliche Geräte, und sie mussten keine Steuern zahlen – zehn Jahre lang.

Ihren Namen haben die Banater Schwaben von ihren Nachbarn, den Serben und Rumänen bekommen, die im Siebenjährigen Krieg als Panduren auf der österreichischen Seite gegen den Alten Fritz gekämpft hatten. Sie waren bis an den Rhein gekommen und nannten alle, die sie für Deutsche hielten, „Schwabo“.

Paul Einholz machte sich aus Gammertingen auf ins Banat

Es gab auch richtige Schwaben unter uns. Die ungarischen Grafen Karoly mit riesigen Gütern in der Gegend der westrumänischen Stadt Sathmar, dachten sich, was die österreichischen Kaiser können, das schaffen wir auch. Sie brachten im 18. Jahrhundert etwa 8000 Siedler auf ihre von Krieg und Epidemien entvölkerten Gebiete. Bauern, Handwerker, Waldarbeiter – Katholiken aus Oberschwaben, vorwiegend aus den Landkreisen Biberach, Ravensburg und Sigmaringen. Sie erhielten Ackerboden, Wiesen und Wald unentgeltlich zur Nutzung, außerdem Zugvieh, Getreide, Bauholz, und sie waren keine Leibeigenen mehr. Der Familienüberlieferung zufolge war unter ihnen auch der unverheiratete Zimmermann Paul Einholz, der aus Gammertingen auf der Alb ausgewandert war.

Als einen Teil ihrer neuen Heimat erlebten die Siedler das geschichtliche Auf und Ab jener Landstriche. Als 1919 nach dem Ersten Weltkrieg die Landkarten neu gezeichnet wurden und Österreich-Ungarn verschwand, fielen Siebenbürgen und große Teile des Banats an Rumänien, der Rest an Ungarn und Serbien. Das gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben blühte auf, denn die Rumänen, selbst lange Zeit unter fremder Herrschaft, waren liberal, was die Rechte der mitwohnenden Nationalitäten betraf. In dieser Zeit kamen auch die Sathmarschwaben Einholz ins Banat, wo später der Müllergeselle Wendelin Einholz das in der Mühle tätige Bürofräulein Anna Kowenz, eine Banater Schwäbin, heiratete – meine Eltern.

800 000 Rumäniendeutsche am Ende des II. Weltkriegs

Doch der Antritt des geschassten georgischen orthodoxen Priesterstudenten Josef Dschugaschwili als Stalin und des verkrachten Postkartenmalers und böhmischen Gefreiten Adolf Schicklgruber als Hitler mit dem Anspruch auf den Titel des größten Henkers aller Zeiten läutete das Ende der Rumäniendeutschen als homogene Gruppe ein. Von den rund 800 000 in der Zeit davor waren nach dem Ende des großen Weltbrandes viele Tausende auf der Flucht und etwa 50 000 Männer von England bis Sibirien in Kriegsgefangenschaft.

Zudem mussten mehr als 80 000 rumäniendeutsche Männer im Alter von 16 bis 45 Jahren und Frauen im Alter von 18 bis 30 Jahren als Deportierte in der Sowjetunion mit ihrer Zwangsarbeit die Reparationskosten Rumäniens bezahlen. Das Land hatte bis August 1944 auf der Seite des Dritten Reichs gegen die Rote Armee gekämpft.

Meine Frau und ich wurden Mitte der 50er Jahre geboren, als die Wunden des Krieges nicht mehr so frisch waren. Während andere Staaten ihre Deutschen vertrieben, hielt Rumänien sie zurück. Langsam setzte eine Tauperiode ein, sie bekamen mehr Rechte – darunter auch Schulunterricht in der Muttersprache. Und so hatte ich das Privileg, als erster aus unserem Dorf in der Großstadt Temeschwar das neu gegründete vierzügige deutsche Gymnasium, die „Lenauschule“, zu besuchen.

An der Lenauschule: einziger Junge mit 32 Mädchen

Es ist nicht spurlos geblieben, was uns Jugendlichen vier Jahre lang im Foyer des Gymnasiums begrüßt hat. Die Büste eines verwegen blickenden Dichters Nikolaus Lenau und seine Verse: „Ihr kriegt mich nicht nieder,/Ohnmächtige Tröpfe,/Ich kehre wieder und wieder/Und meine steigenden Lieder/ Wachsen begrabend Euch über die Köpfe!“ (Die Securitate hat wohl geschlafen). Dort an der Lenauschule hatte ich als schüchterner Internatler vom Dorf, der die Klasse 9 als einziger Junge mit 32 Mädchen besuchte, bei der Mitarbeit an der Schülerzeitung eine strenge Mentorin aus der Klasse 12: Sie hieß Herta Müller.

Wo trifft ein banatschwäbischer Journalistikstudent auf eine sächsische Jugendarbeiterin? Beim Studium in der Hauptstadt Bukarest. Unsere Söhne wurden in Temeschwar, wo auch mein Arbeitsplatz, die Redaktion der deutschsprachigen Tageszeitung „Neue Banater Zeitung“ war, in einer Zeit geboren, als ein seniler Diktator und dessen grausame Ehefrau, um die Staatsschulden abzubauen, das Land an den Rand einer Hungersnot brachten. Ein gefragter „Exportartikel“ waren 13 000 Rumäniendeutsche pro Jahr, für die die Bundesrepublik 8000 Mark pro Kopf bezahlte. Im Halbverborgenen kassierte die Securitate von ihnen hohe Erpressungsgelder und schacherte mit ihren Häusern und Wohnungen, da sie enteignet wurden.

1989 Revolution in Rumänien

Doch als um Weihnachten 1989 das Diktatoren-Ehepaar Ceausescu nach einem kurzen Prozess im Kugelhagel des Exekutionskommandos starb, brachen für die Rumäniendeutschen alle Dämme. Die Revolution, die die Welt am Fernseher erlebte, war in Temeschwar ausgebrochen, in der Stadt, die der Diktator, wohl in böser Vorahnung, wegen ihres westlichen Flairs so hasste. Mehr als 250 000 Menschen, von denen viele Tausend seit Jahren auf gepackten Koffern saßen, wofür ihnen übel mitgespielt wurde, machten sich innerhalb von zwei Jahren auf den Weg nach Deutschland. Sie kamen in stillgelegten Bundeswehrkasernen, umgebauten Turnhallen, heruntergekommenen Pensionen unter.

Nachdem fast alle unsere Leser ausgewandert waren, haben auch wir uns zu dem Schritt entschlossen, nachdem wir zuvor unsere vor Jahren ausgewanderten Eltern und Geschwister besucht hatten. Unsere gute Bildung, die ein knitzer schwäbischer Beamter nicht an uns Erwachsenen, sondern an unseren Söhnen getestet hat, bescherte uns Baden-Württemberg als neue Heimat. Wer nicht ganz so gut war, wurde in die neuen Bundesländer „abgeschoben“.

Zehn Personen in einer Drei-Zimmer-Wohnung

Für 20 Monate sollte das Übergangswohnheim in Möglingen unser neues Zuhause werden. Mit zwei weiteren Familien, insgesamt zehn Personen, haben wir eine Drei-Zimmer-Wohnung mit gemeinsamer Küche und gemeinsamem Bad geteilt. Für das 18 Quadratmeter große Zimmer kassierte das Landratsamt in den letzten Monaten 750 Mark Miete – allerdings gab es auch Wohngeld. Übrigens: einem Flüchtling in der Anschlussunterbringung stehen heute in Baden-Württemberg mindestens zehn Quadratmeter Wohnfläche zu.

Für die Kinder war der Schulbesuch kein Problem, aber für die Eltern war es eines, eine Wohnung und einen Job zu finden. Unsere ausgewanderten Landsleute und Hunderttausende ehemaliger DDR-Bürger auf der Suche nach einem neuen Glück hatten den Wohnungs- und den Arbeitsmarkt abgegrast. Als es uns finanziell am dreckigsten ging, wagten wir trotzdem den Schritt in eine überteuerte eigene Drei-Zimmer-Wohnung in Ludwigsburg .

Noch schwerer war es mit einem Job. Nach mehr als einem Jahr als freier Mitarbeiter der „Leonberger Kreiszeitung“, einem halbjährigen Praktikum bei den Stuttgarter Nachrichten und dank des Zuspruchs einer guten Freundin hat sich Ende September 1993 das Blatt gewendet.

Job bekommen – „Jetzt waren wir angekommen“

Meine Frau erzählt, wenn das Thema im Gespräch mit Freunden aufschlägt, die Episode so: „Eines Abends ist er nach einem Termin bei der Zeitung und vor der Nachtschicht bei UPS mit einer Flasche Sekt nach Hause gekommen. Er hat vier Gläser genommen, Sekt eingefüllt, alle in der Küche zusammengerufen und nur gesagt: Trinkt! Da dachte ich, jetzt ist er völlig übergeschnappt. Doch dann fiel der Groschen: Hast du Arbeit? Ein kurzes Ja war die Antwort. Und weil uns Eltern die Tränen über die Wangen liefen, haben die Jungs Bernd und Ralf auch mitgeweint. Jetzt waren wir wirklich in Deutschland angekommen!“

Dieser Text ist ein Teil einer großen Serie über Auswanderer aus der Region Stuttgart.