Zwei Reporter reisen mit dem Zug durch Europa, um dem Kontinent den Puls zu fühlen. Auf der ersten Etappe von der Ukraine bis nach Stuttgart bekommt es Knut Krohn mit Europaliebhabern außerhalb der EU und mit Europahassern in der EU zu tun.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Budapest - Mühsam schleppt sich die Lokomotive die Berge der Karpaten hinauf. Vor den Fenstern des Zuges gleitet eine archaische Landschaft vorbei. Luchse und Bären sollen hier leben, steht in den Reiseführern zu lesen. Zu sehen ist aber nur der bunte Plastikmüll, der sich im Gestrüpp des Wildbaches verfangen hat, dessen graues Wasser die Fahrt nun schon seit einigen Kilometern durch das enge Tal begleitet. Das Interesse der Gäste im Abteil gilt aber einem ganz anderen Phänomen: Conchita Wurst.

 

Die Dragqueen scheint der ultimative Test für die Toleranz einer Gesellschaft. Nach kurzer und heftiger Diskussion hat sich die Gruppe auf das Geschlecht der Kunstfigur geeinigt, die gerade den Eurovision Song Contest gewonnen hat. Zwei Ukrainer stimmen für „er“, eine Landsfrau der beiden für „sie“, zwei Ungarn ebenfalls für „sie“. Eine US-Amerikanerin hat keine Meinung. „Sorry, ich kenne Conchita Wurst nicht“, zieht sie sich diplomatisch aus der Affäre. Jedenfalls gelte „anything goes“ – alles ist möglich.

Diese Karte zeigt die Route, auf der Knut Krohn und Matthias Schiermeyer durch Europa reisen. Fahren Sie auf einen der Punkte, um weitere Informationen zu erhalten. Klicken Sie hier für eine größere Ansicht.

„Solche bornierten Leute wie ihr sind der Grund, weshalb wir noch immer nicht wirklich in Europa angekommen sind“, wirft Tatjana, die junge Ukrainerin, ihren Begleitern vor. Die beiden Ungarn versuchen sie zu bremsen: Es gebe ja auch in der EU sehr viele eher konservative Geister. Tatjana rauft sich genervt ihre blondierten Haare.

Die junge Frau arbeitet in Lviv, dem ehemaligen Lemberg, im „Money-Exchange-Biznez“, wie sie wenig präzise ihr Tun umschreibt. Nun gönnt sie sich ein paar Tage Urlaub und ist auf dem Weg nach Wien, der Stadt ihrer Träume. „Die Leute dort sind freundlich und liberal“, schwärmt sie. Zuletzt hat ihre Liebe zu Österreich allerdings einen Knacks bekommen. „Warum gibt es dort Parteien, die gegen die Europäische Union sind“, fragt sie, und ihr Unverständnis ist mit Händen zu greifen. Der Ukrainerin sind beim letzten Besuch Wahlplakate der rechtspopulistischen FPÖ aufgefallen. „Bei uns kämpfen wir dafür, zu Europa zu gehören, und in Österreich treten manche Leute die Union mit Füßen. Wieso dürfen die das“, fragt sie.

Der Bahnhof von Chop: noch immer ein Vorposten des Sowjet-Reiches Foto: Krohn

Als der Zug hat die Karpaten hinter sich gelassen hat, treibt die Conchita-Wurst-Diskussion in einem emotionalen Crescendo einem unguten Ende entgegen. Da kündigt die Schaffnerin die nächste Station an: Chop. Alles zusammenpacken und aussteigen. Die kleine Stadt mit dem überdimensionierten Bahnhof ist die ukrainische Grenzstation zu Ungarn und verbreitet noch heute den Charme eines sowjetischen Vorpostens. Der kalte Wind treibt Regenschauer über das Gelände. Männer in Uniform und mit finsterer Miene stellen sicher, dass die Reisenden den Bahnsteig zügig verlassen. In der Wartehalle ist von 15 Fahrkartenschaltern einer geöffnet. An der Wand erstreckt sich ein monumentales Relief mit der Darstellung des Sieges der russischen Armee im Großen Vaterländischen Krieg. Dieses Werk finden denn auch die eher wertkonservativ eingestellten ukrainischen Begleiter von Tatjana reichlich unpassend. Alle sind sich einig: das gehört weg – oder allenfalls ins Museum. Museal ist auch die barsche Abfertigung der Reisenden durch die Grenzbeamten.

Keine zehn Minuten dauert die Fahrt mit dem kleinen Pendelzug von Chop nach Zahony, der Grenzstadt in Ungarn. „Willkommen in Europa“, murmelt Tatjana, als der Zug langsam über die alte Brücke rumpelt, die sich über den Grenzfluss Tisza spannt. Es dauert noch einige Zeit bis zum Aussteigen, doch schon kommt geschäftige Bewegung in die Abteile. Alte Frauen raffen unzählige Tüten und Taschen zusammen, in denen sie im kleinen Grenzverkehr Waren von Ost nach West und umgekehrt transportieren. Es ist für sie die einzige Möglichkeit, ihre Rente aufzubessern, weshalb die Zöllner großzügig ein Auge zudrücken. Mit ihrer Last auf dem Schoß warten die betagten Grenzgängerinnen auf das Ende der kurzen Reise. Auf vielen Tüten leuchtet das Aldi-Logo. Das Konzept der Discounter scheint grenzüberschreitend und hat offensichtlich auch in dieser letzten Ecke der Europäischen Union andere Ideologien abgelöst.

Die Amerikanerin rätselt über das Konzept der EU

Ann, die Amerikanerin aus Washington, muss über den politischen Eifer Tatjanas schmunzeln, mit dem sie die EU verteidigt. „Ich habe dieses Konzept Europa nicht wirklich verstanden“, gesteht sie. Für Ann besteht der Kontinent vor allem aus Fragen: Warum streiten sich ständig alle? Warum ist die Ukraine nicht in der Union? Warum haben nicht alle den Euro? Der letzte Punkt schmerzt sie persönlich. Auf einer Reise durch Litauen ist ihr ein Fehler beim Umrechnen unterlaufen: An einem Bankautomaten hat sie litauische Litas im Wert von 500 Dollar abgehoben und nicht nur für 50 Dollar. „Zurücktauschen war verdammt schwierig“, sagt sie, „keine Bank wollte diesen Batzen haben.“

Zahony in Ungarn unterscheidet sich kaum von Chop in der Ukraine. Der Bahnhof ist zu groß, und die Straßen sind schlecht, allerdings hat in Zahony ein großer Spar-Supermarkt die typischen kleinen Kioske osteuropäischer Prägung abgelöst. „Wir leben gut hier“, erklärt die Frau am Fahrkartenschalter. Hier werden viele Waren in Richtung Osten umgeschlagen, das bringt Geld. Trotzdem verlassen viele junge Leute die Stadt in Richtung Budapest. „Wer etwas erreichen will, der muss nach Budapest“, sagt sie und macht eine unbestimmte Handbewegung nach Westen.

Victor Orban will die EU in ihre Schranken weisen

Im Bahnhofsrestaurant gibt es pappige Wurstbrötchen. Zwei Männer trinken Bier aus einer 2,5-Liter-Plastikflasche und unterhalten sich mit der Bedienung. In zehn Minuten geht der Zug. Das Gleis nach Budapest zieht sich schnurgerade durch die endlos wirkende, fast menschenleere Ebene. Überraschend viele Straßen in den Dörfern sind ungeteert. Industrie? Fehlanzeige. Als sich der Zug der Hauptstadt nähert, sind am Horizont viele Mietskasernen zu sehen, es geht vorbei an großen Fabrikanlagen. Die Autos auf den Straßen werden größer, neuer, schicker. Langsam gleitet der Zug an einem großen Wahlplakat für die Europawahl am 25. Mai vorbei. Es ist das erste seit dem Überschreiten der Grenze vor vielen Stunden. Zu sehen ist allerdings nicht einer der ungarischen Kandidaten für Straßburg, sondern Regierungschef Victor Orban, das übermächtige Zugpferd der national-konservativen Fidesz-Partei.

Der Premier ist auch der umjubelte Star einer Veranstaltung vor dem Parlament. Dort präsentieren sich der frisch gewählte Regierungschef und seine Mannschaft dem Volk. Sein Auftritt wirkt nicht wie der eines Despoten, als der er im Rest der Europäischen Union gerne dargestellt wird. Fast unsicher steht er vor dem Mikrofon und winkt in die Menge. Erst als Orban redet, gewinnt er an Sicherheit. Frenetisch gefeiert preist der Premier den Wert der Nation und der Familie. Ungarn werde sich nicht zur Geisel der EU machen lassen, verspricht er und erntet großen Jubel. Fahnen werden geschwenkt. Die Erwähnung von Namen wie dem des bekannten Europa-Grünen Daniel Cohn-Bendit wird hingegen mit lauten Buhrufen begleitet. Am Ende wird Victor Orban eine ungarische Flagge auf die Bühne gereicht. Er überlegt einen Moment und legt sie sich schließlich wie einen Fan-Schal um die Schultern.

Die jungen Leute zieht es in die Hauptstädte. Foto: Krohn

Aus dem Fahnenmeer ragt eine Flagge heraus. Die Stephanskrone, hochgehalten von Tarczi Istvan. Aufrecht, fast trotzig steht der Mann in der Menschenmenge. Auf seinem T-Shirt prangt die Losung „Nein zu Europa“. Die EU ist in seinen Augen eine existenzielle Gefahr für sein Vaterland. Aufbewahrt wird die Stephanskrone im Parlament als Symbol für die Einheit der Nation. Für diese Einheit ist Tarczi Istvan bereit zu kämpfen. „Wir haben die Nazis besiegt, die Kommunisten besiegt und wir werden auch die Europäischen Union besiegen“, verkündet er. Zum Abschied verteilt Tarczi Istvan noch seine Visitenkarte, darauf zu sehen: die Stephanskrone.

„Solche Leute gibt es“, sagt Laszlo Odor und fügt noch ein „leider“ hinzu. Auch er ist ein aufrichtiger Patriot und hat sich sein Leben lang für die Verständigung zwischen den Völkern eingesetzt. Gerade deshalb sieht er es als seine Pflicht an, auch Fehlentwicklungen im eigenen Land zu kritisieren. Odor diente lange Jahre als Diplomat und leitete zuletzt in Stuttgart das Ungarische Kulturinstitut, nun lebt er wieder in Budapest. „Die allermeisten Ungarn stehen fest zu Europa und der Europäischen Union“, betont Odor. Laut beklagt er die Schwäche der Opposition, was das Land in eine „gewisse Disbalance“ gebracht habe. „Aber die Ungarn glauben an die Union als Projekt für die Zukunft.“

Hinter Budapest beginnt der Westen

Wer Budapest in Richtung Wien verlässt, sieht ein ganz anderes Land. Prägt im Osten eine gewisse Armut das Bild, durchziehen im Westen moderne Autobahnen kreuz und quer die Landschaft, riesige Windparks produzieren Energie. Der Zug durchschneidet das, was Politiker in ihren Reden gerne als blühende Landschaften bezeichnen. Und plötzlich rauscht der Zug durch Österreich. Keine Grenzkontrolle, keine Schlagbäume, keine Zöllner. Leider ist Tatjana, die junge Ukrainerin mit einem großen Faible für Wien, nicht mehr an Bord. Sie würde nun wieder zu einer Hymne auf die Europäische Union ansetzen.

Stattdessen hängen Plakate der FPÖ in den Straßen der österreichischen Hauptstadt. Eingeladen wird zu den Wahlkampfveranstaltungen, die im FPÖ-Jargon „Patrioten-Tour“ heißt. Österreich rechne ab mit der EU, wird dort versprochen. Von Zentralisierungswahn, widernatürlicher Homo-Ehe, und Eurokraten ist die Rede. „Kann man das nicht einfach verbieten“, hatte Tatjana gefragt. Den Hinweis, dass es eben auch zur Demokratie gehöre, andere Meinungen auszuhalten, quittierte sie damals mit Kopfschütteln. Am Ende des kurzen Zwischenstopps noch ein Gang zum Bahnhofskiosk. Eine Schlagzeile: „Conchita Wurst singt vor dem Kanzleramt“. Die Dragqueen und die FPÖ sind Teil eines Landes – wie passt das zusammen? Der Zug nach Stuttgart fährt ein, Wien verschwindet hinter getönten Scheiben.

Angekommen im eigenen Land dürfte keine Überraschung mehr warten. Geschäftsleute hacken in ihre Laptops, lesen oder hören Musik. Kurz nach Ulm steigt ein junger Mann in den Zug. Schwarze Hose, grauer Pullover, kurzes Haar. Smalltalk, die Rede kommt auf die Europawahl. „Die Parlamentarier haben sicher viel Arbeit“, beginnt der Mann und sucht dann etwas zu lange nach Worten. „Aber es muss sich etwas ändern.“ Dann beginnt er von Traditionen zu reden, von 2000 Jahre alten Werten, die es zu erhalten gelte. Die EU sei ein Grund, weshalb diese Fundamente zerstört würden. Sichtbares Zeichen: diese komische Frau mit Bart, die bei diesem europäischen Singwettbewerb. Am Fenster gleitet das Schild „Plochingen“ vorbei.