Die Debatte um ein Bündnis von Grünen, FDP und SPD könnte nach den Landtagswahlen an Fahrt gewinnen. Für die Union ist das alarmierend.

Berlin - Man müsste einmal ein Buch über die Ruhe in der Politik schreiben. Es gibt so viele Variationen. Die entspannte Ruhe, wenn der Politikbetrieb für eine Weile reibungslos läuft und ein Rädchen ins andere greift. Oder die ausatmende Entspanntheit, wenn die Sommerpause all die Berliner Aufgeregtheiten für acht Wochen einfach gut sein lässt. Gerade ist es wieder ziemlich ruhig in der Hauptstadt. Aber diese nervöse Reglosigkeit gleicht eher einem spannungsgeladenen Luftanhalten. Es ist die Ruhe vor dem Sturm.

 

Am Wochenende wird in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gewählt. Der erste große Stimmungstest im Jahr der Bundestagswahl. Je nach Wahlausgang werden Weichen gestellt und Themen gesetzt, die den gesamten Bundestagswahlkampf prägen können. Das erklärt die knisternde Atmosphäre in Berlin.

Ab Montag ist es mit der Ruhe in Berlin vorbei

Es ist nämlich ganz gut möglich, dass am Wahlsonntag tatsächlich ein neues Thema die politischen Debatten beherrschen wird. Wenn, was durchaus wahrscheinlich ist, Malu Dreyer ihre Koalition fortsetzen und wenn, was zumindest nicht unwahrscheinlich ist, die Südwest-CDU kräftig durchgerüttelt wird, dann könnten sich in Mainz und Stuttgart vielleicht gleich zwei Ampelkoalitionen aus Grünen, SPD und FDP etablieren: die Wiederauflage in Rheinland-Pfalz und eine Premiere in Baden-Württemberg. Und dann wäre es mit der Ruhe in Berlin schlagartig vorbei.

Die bundespolitischen Konsequenzen wären erheblich. Bei der Union müssten alle Alarmglocken schrillen. Die Partei, der das Regieren in den genetischen Code eingeschrieben ist, konnte sich seit 2005 in der Gewissheit wiegen, dass Partner kommen und gehen, aber die Kanzlerschaft in christdemokratischer Hand bleibt. Es gab jenseits der Union keine realistische Machtoption. Die Ampel war es schon deshalb nicht, weil sich Grüne und FDP so wesensfremd waren, dass beide Seiten nicht zueinanderkamen – warum ja auch die Jamaika-Träume nach der Bundestagswahl 2017 platzten.

Das alte Lagerdenken funktioniert nicht mehr

Die Dinge sind nicht mehr so. Das Sechs-Parteien-System macht Konstellationen, in denen sich nur politisch nahestehende Kräfte zusammenfinden, fast unmöglich. Gerade die geräuschlos funktionierende Ampel in Mainz hat gezeigt, dass Fairness sogar eine stabilere Grundlage sein kann als althergebrachtes Lagerdenken. Zumal die FDP auf Bundesebene längst erkannt hat, dass das Interesse bei der Union, wieder mit den Liberalen zu regieren, nicht sehr ausgeprägt ist. Viele dort sehen in einer Koalition mit den Grünen ein eher dem Zeitgeist entsprechendes Zukunftsprojekt.

Es ist also verständlich, dass die Liberalen die Ampeldebatte herzlich begrüßen. Sie gibt der Partei mehr Unabhängigkeit im Wahlkampf und eine zusätzliche Machtoption. Es ist also kein Wunder, dass die Parteispitze die Debatte munter befeuert. Generalsekretär Volker Wissing stuft das traditionelle schwarz-gelbe Koalitionsmodell zu einer „Option unter anderen“ herunter, die „kein Automatismus mehr“ sei. Und Parteichef Lindner bekräftigt im Gespräch mit unserer Zeitung den Anspruch, „aus Regierungen heraus zu gestalten“. Zwar sehe er mit der Union noch immer „die größten Überschneidungen“, die wirke aber „ambitionslos“. Lindner vergisst deshalb nicht, darauf hinzuweisen, dass „die Grünen von Herrn Kretschmann nicht repräsentativ für die nach links strebenden Grünen auf Bundesebene stehen“. Entscheidungen über mögliche Koalitionen treffe ohnehin „am Ende dann der Landesverband“.

Bei einer Ampel winkt den Grünen die Kanzlerschaft

Aber würden die Grünen auf Bundesebene in eine Ampel einsteigen? Klar würden sie. Nach den seit langer Zeit in diesem Punkt stabilen Umfragen wären sie in diesem Bündnis der stärkste Partner. Mit anderen Worten: Es winkt die Kanzlerschaft.

Aber selbst, wenn das zu weit vorgegriffen ist: Schon im Wahlkampf wirkte die Aussicht befreiend, denn in der Partei beginnt die Befürchtung umzugehen, die Grünen könnten in Vorbereitung auf den möglichen Einstieg in eine Koalition mit der Union zu große Beißhemmung gegenüber dem kommenden Partner entwickeln. Tatsächlich fällt ja auf, wie schonend die Parteiführung mit der Coronapolitik von Kanzlerin Merkel und Gesundheitsminister Spahn umgeht. Vor allem die Parteilinken würde eine glaubhafte Aussicht auf eine Ampel aus einer Zwickmühle befreien. Auch denen wird es nämlich bei der bisher einzig gehandelten Alternative, einem rot-rot-grünen Bündnis, angesichts der Linkspartei mulmig. Fraktionschef Anton Hofreiter nannte es jüngst „völlig eindeutig“, dass manche ihrer Positionen in einer Regierung „nicht umzusetzen seien“.

Auch die SPD-Linken würden sich nicht sperren

Und der Dritte im Bunde? Natürlich hat die SPD überragendes Interesse an einer Ampel. Auch dort sieht man, wie schwierig es mit der Linken werden könnte. Eine Ampel wiese einen anderen Pfad zur Kanzlerschaft, und womöglich einen, mit dem der Spitzenkandidat Olaf Scholz sogar besser leben könnte. Der poliert zwar derzeit kräftig sein linkes Image, aber zweifellos hätte der Hanseat keine Berührungsängste mit den Liberalen. Problematisch ist für die SPD ein ganz anderer Punkt: Sollte man auch dann in ein solches Dreierbündnis eintreten, wenn die Grünen die stärkste Kraft und mithin Kanzlerpartei wären? Als Parteichefin Saskia Esken das im ARD-„Sommerinterview“ nahegelegt hatte („Da geht es nicht um Eitelkeiten“) wurde ihr das in der Partei krummgenommen und mindestens als Kleinmut ausgelegt.

Inzwischen hat auch bei der SPD die Parteilinke ihren Frieden mit der Ampel gemacht. Man sei ja nicht bei „Wünsch dir was“, hat Parteivize Kevin Kühnert jüngst gesagt. Das SPD-Wahlprogramm sei „anschlussfähig für alle, die wie wir glauben, dass das Beste noch vor uns liegt“.