Vor der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien zeichnen die ARD und Arte mit verschiedenen Dokus ein ganz besonderes Bild der brasilianischen Gesellschaft.

Stuttgart - Wir müssen dieses Bild vom primitiven Paradies endlich hinter uns lassen“, sagt der Bürgermeister Eduardo Paes über Rio de Janeiro. Brasilien, das fünftgrößte Land der Erde, ist ab kommenden Donnerstag Schauplatz der Fußball-Weltmeisterschaft. Und zwei Jahre später der Olympischen Sommerspiele. In verschiedenen Dokumentationen insbesondere bei Arte und im Ersten bemüht sich das Fernsehen am Pfingstwochenende um Einblicke in die brasilianische Gesellschaft. Gewissermaßen en bloc, ehe die Live-Übertragungen die Programme bestimmen und die Aufmerksamkeit auf Stars und Tore lenken. Sofern nicht Proteste – wie im Vorjahr beim Confederations Cup – dafür sorgen, dass die Welt-Öffentlichkeit auch etwas von den Missständen im Land wahrnimmt.

 

Woher kommt dieser Zorn? Mitreißend und rasant erzählt der Brite Julien Temple in seinem von WDR und Arte koproduzierten BBC-Dokumentarfilm „Rio 50 Grad Celsius“ (Arte, Samstag, 22 Uhr) von der Stimmung im Land, genauer: in Rio de Janeiro. Straßenszenen, historische Aufnahmen, Interviews und Spielfilm-Sequenzen kombiniert Temple zu einem aufregenden Trip durch die Metropole und ihre Geschichte.

Es geht sexy, laut und schrill zu

Das Stimmengewirr, die Landschaften, die Musik – hier entfalten sich dank einer brillanten Montage die Vielfalt und die Gegensätzlichkeit von Rio. Eine Society-Lady springt in ihren Pool, eine arme Frau wäscht Kleider in einem Straßenloch. Die wohlhabende Dona fordert Geburtenkontrolle für die Favelas, eine Frau aus den Armenvierteln erzählt von Glück und Stolz, von ihren zahlreichen Kindern, Enkeln und Urenkeln.

Auch einige der üblichen Klischees dürfen nicht fehlen: die Schönheiten an der Copacabana, der Karneval. Luana, die Vorsitzende des Vereins der Transvestiten von Rio, erklärt ihn für „erledigt. Heute ist der Karneval nur noch für euch, für die Touristen, da“. Es geht sexy, laut und schrill zu – und sehr musikalisch. Brasilien ist hier nicht nur die Heimat von Bossa Nova und Samba, von weltweit vermarkteter Leidenschaft, sondern auch ein Schauplatz, an dem die „Kultur als Kriegswaffe“ eingesetzt wird, wie der „City of God“-Autor Paulo Lins erklärt. Wo die populäre Musik von Gilberto Gil und Caetano Veloso in den siebziger Jahren die Militärdiktatur herausforderte, wo die Jugendlichen in den Favelas zu HipHop tanzen oder Funk-Partys organisieren.

In den Armenvierteln, die sich auf atemberaubende Weise auf den Hügeln Rios ausgebreitet haben, leben die Nachfahren der schwarzen Sklaven. Nach zwanzig Jahren Militärdiktatur haben zwanzig Jahre lang Drogenbanden die Slums kontrolliert. Blutige Kämpfe waren an der Tagesordnung, in denen auch Polizeigewalt zu zahlreichen zivilen Opfern führten. Seit 2008 versucht der Staat systematisch, die Favelas zurück zu erobern. Militärpolizei verdrängt die Drogenbanden, eine dauerhaft stationierte „Befriedungspolizei“ soll für Sicherheit sorgen – und überhaupt erst die Möglichkeit dafür schaffen, dass Straßen gebaut, Häuser saniert, Versorgungsleitungen gelegt werden können. Differenzierter beschreibt diese Politik der ebenfalls sehenswerte Dokumentarfilm „Rio – Kampf um Frieden“ (Arte, Dienstag, 22.40 Uhr). Bis WM-Beginn wurden 60 von 900 Favelas in Rio „befriedet“, bis Olympia sollen es 60 weitere sein. Ein Herkulesaufgabe.

Eine Aneinanderreihung von Folklore und Klischees

Und eine Quelle für neue Spannungen. Denn für die Sport-Spektakel müssen Häuser und Menschen weichen, für Parkplätze am Maracana-Stadion sogar ganze Favelas. Das erfährt man auch bei dem launigen Reise-Zweiteiler „Tour de Brasil“ (ARD, Sonntag und Montag, jeweils 19.15 Uhr), der sich aber sonst nur am Rande mit den gesellschaftlichen Konflikten Brasiliens beschäftigt. Der ehemalige SWR-Sportchef und „Sportschau“-Moderator Michael Antwerpes sowie der Südamerika-Korrespondent Michael Stocks sammeln fleißig Flugkilometer, was immerhin den Vorteil hat, dass man hier mehr von Brasilien zu sehen bekommt als nur Rio de Janeiro.

Allerdings gerät diese Reisereportage über weite Strecken zu einer Aneinanderreihung von Folklore, Klischees und Belanglosigkeiten. Insbesondere Antwerpes klappert unter großem Hallo Sehenswürdigkeiten ab, vom Oktoberfest in Blumenau bis zum deutschen WM-Spielort Salvador de Bahia, der natürlich „die schwarze Seele Brasiliens“ ist. Hier gelingt ihm nach einem ziemlich verschenkten Besuch beim Vater von Bayern-Profi Dante, wo Antwerpes vor allem Fotos und Trikots bewundert, eine wirklich bemerkenswerte Überleitung: „Dante, der Turm in Bayerns Abwehr – und das ist der Faro, der Leuchtturm von Bahia.“ In diesem Stil wird hier ein Programm abgespult, das die ARD unverhohlen als Reiseratgeber für WM-Touristen bewirbt. Man fragt sich allerdings, ob das nicht eigentlich eine etwas kleine Zielgruppe für eine Ausstrahlung im Ersten ist, und wieso gehaltvollere Filme des öffentlich-rechtlichen Systems am späten Abend bei Arte ausgestrahlt werden.