Die Briten halten mit ihrem Gezerre um den Brexit Europa in Atem. StZ-Redakteur Christian Gottschalk referierte über die Lage.

Stuttgart - Der 29. März ist vorbei – und das Vereinigte Königreich ist noch in der Europäischen Union. An diesem Datum hätten die Briten eigentlich die EU verlassen sollen: Exakt zwei Jahre zuvor hatte deren Regierung in Brüssel die offizielle Austrittserklärung nach Artikel 50 der EU-Verfassung eingereicht. Doch die Zweijahresfrist verstrich, der Brexit wurde vertagt. Grund: Das britische Parlament, also das Unterhaus, lehnte den Brexit-Deal, den Premierministerin Theresa May mit der EU aushandelte, bisher dreimal ab.

 

„Sie sind so zahlreich erschienen, weil Sie wissen wollen, wann es passiert, das wäre aber Kaffeesatzleserei“, erklärte dazu Christian Gottschalk, schmunzelnd in den Robert-Bosch-Saal blickend. Dieser war bis auf den letzten Platz gefüllt. Sprach doch der Außenpolitikredakteur in der Reihe „Stuttgarter Zeitung direkt – VHS Pressecafé“ über „Brexit – und jetzt?“. Eine Frage, die angesichts der Abstimmungsmarathons, die im Unterhaus seit Wochen stattfinden, schwer zu beantworten ist. Alle acht Alternativen des weiteren Brexit-Verlaufs bekamen keine Mehrheit.

Die Geschichte beginnt 2013

Gottschalk skizzierte den Hintergrund des Dilemmas. Das begann mit der Entscheidung des einstigen Premiers David Cameron 2013, ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft abzuhalten, um die Nörgler in seiner konservativen Partei, den Torys, zu befrieden. Es folgte eine Kampagne, in der der damalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson und die Ukip, die Rechten um Nigel Farage, kräftig Stimmung für „Leave“, also das Verlassen der EU, machten. Mit falschen Informationen: Auf roten Bussen war etwa zu lesen „Wir überweisen der EU 350 Millionen Pfund jede Woche, lasst uns dies stattdessen in unser Gesundheitssystem stecken.“

Am 23. Juni 2016 stimmten dann, denkbar knapp, 51,9 Prozent der stimmberechtigten Bürger für den Brexit. Cameron ging, May kam, kündigte sowohl den Austritt aus dem EU-Binnenmarkt als auch aus der Zollunion an. „Ein Wendepunkt war, als der britische Supreme Court im November 2016 entschied, dass das Parlament Mitspracherecht beim Austrittsvertrag hat“, so Gottschalk. Normalerweise habe das Parlament im Vereinigten Königreich nicht so viel Macht wie etwa in Deutschland. „Die Regierung konnte es aber nun nicht allein machen. Jetzt kam der Schlamassel mit dem Abstimmen.“ Immerhin wisse man seit dem letzten Urnengang, was die Mehrheit im Unterhaus nicht wolle: den harten Brexit. „Also keinen No-Deal-Brexit“, so Gottschalk. „Aber: Was sie wollen, wissen wir nicht. Das Land ist gespalten, der Riss geht durch die Parteien und Familien.“

Der No-Deal wird wahrscheinlicher

Auch die EU wisse es nicht, die bisher einigermaßen gut agiert habe. „Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker schloss eine erneute Verschiebung des Brexits aus, wenn sich die Parlamentarier nicht vorher einigen: Die Europawahl steht an“, so Gottschalk. So erklärte Juncker am Mittwoch in Brüssel, dass der 12. April als Austrittsdatum die letzte Frist sei, ein „No-Deal“-Ausstieg damit ein „sehr wahrscheinliches Szenario“ werde.

Das Problem sei, betonte Gottschalk, für den Brexit gebe es keine Blaupause. Insofern konnten die Zuschauer nur spekulieren, was passiert, wenn May zurücktritt, oder ob ein zweites Referendum etwas bringt. Auch für das Thema „Backstop“ sah man keine Lösung: Wie soll denn die nordirische Grenze aussehen, wenn sie zur EU-Außengrenze wird, weil Großbritannien kein Mitglied der Gemeinschaft mehr ist? „Keiner will dort mehr eine harte Grenze zu Irland“, so Gottschalk. Entsprechend gespalten waren auch die Meinungen im Publikum. Etwa die Hälfte hoben die Hände, weil sie glaubten, dass der harte Brexit komme. Dazu Gottschalk: „Willkommen im britischen Parlament.“