Bei den VR Experience Days der Filmakademie stellen Branchenexperten ihre Entwicklungen vor. Einige von ihnen verfolgen mit ihren Projekten einen didaktischen Ansatz. Die Geschichten, die sie erzählen, sind teilweise beängstigend.

Digital Desk: Michael Bosch (mbo)

Ludwigsburg - Wer auf den Mount Everest steigen will, braucht viel Geld, sollte seine Ausdauer trainiert haben und auf gute Sherpas hoffen. Oder er schnallt sich ein Virtual-Reality-Headset auf den Kopf. Mit der Technologie kann der Nutzer in eine computergenerierte, interaktive Umgebung eintauchen, sich darin bewegen und mit der virtuellen Welt interagieren. Star-Trek-Fans geben so, wie ihr Vorbild Captain Kirk, Befehle auf der Brücke der Enterprise, Achterbahnfans durchfahren Loopings, ohne sich vom heimischen Sofa zu erheben. „Die Möglichkeiten sind absolut grenzenlos“, sagt Sven Meyer, „wir haben das immer noch nicht ganz verstanden.“

 

Meyer entwickelt eine Plattform, die den Nutzer komplett scannt, sodass er sich frei und ohne Verbindung zu einem Computer, der die Bewegungsfreiheit normalerweise einschränkt, in der virtuellen Welt bewegen kann. Der erste Prototyp wird im kommenden Jahr im Europapark in Rust eröffnet. Aber Virtual Reality ist keineswegs nur Spielerei. Piloten werden mit Hilfe von VR ausgebildet, in der Medizin, Architektur und Geologie kommt sie ebenfalls zum Einsatz. Bei den VR Experience Days der Filmakademie Ludwigsburg standen nun dokumentarische, forschungsbasierte und nicht-fiktionale Formate, die häufig auch einen didaktischen Ansatz verfolgen, im Fokus.

Wer sich unsicher war, ob er empathisch ist, hatte in den Albrecht-Ade-Studios Gelegenheit, das zu überprüfen.

Wie fühlt sich eine Muslima in London?

In „Trigger Incident“ des Londoners Dan Archer, der als Vordenker in der Szene gilt, schlüpft der Nutzer in den Avatar einer Muslima im heutigen London. Er soll erleben, wie es ist, im Alltag – beispielsweise in der U-Bahn – rassistischen Übergriffen ausgesetzt zu sein. Archer erforscht mit dem Projekt, inwiefern Nutzer durch die Erfahrungen Perspektiven von Menschen übernehmen, die einer anderen sozialen oder kulturellen Gruppe angehören. Dass VR Menschen dazu besonders gut befähigt, hat einen Grund. Das Zauberwort heißt Immersion.

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Wenn der Nutzer sich so sehr in der virtuellen Umgebung verliert, dass er sie als real wahrnimmt, spricht der Experte von Immersion. Da der Nutzer in der virtuellen Realität entweder mit einem Joystick oder mit seinen Händen, die getrackt werden, mit der Welt interagieren kann, ist die Intensität der Erfahrung im Vergleich zu einem Film sehr viel größer. Wie bedrückend eine solche Erfahrung sein kann, zeigt Gayatri Parameswaran mit „Home after war“. Die Journalistin aus Indien erzählt die Geschichte eines Vaters, der ins zerbombte Fallujah (Irak) zurückkehrt. In seiner völlig zerstörten Heimat muss er täglich um das Wohl seiner Familie fürchten, weil die Stadt übersät ist mit Sprengfallen. Parameswaran war im Januar 2018, kurz nachdem der Islamische Staat aus der Stadt vertrieben worden war, nach Fallujah gereist, um das Bild- und Videomaterial zu erstellen. In ihren Werken erforscht sie gerne Tabuthemen. Neben Krieg und Frieden hat sie sich auch schon Gewalt in Partnerschaften und Abtreibungen gewidmet. „Ich finde besonders die Möglichkeit spannend, Virtual Reality dazu einzusetzen, eine wünschenswerte Zukunft zu schaffen“, sagt sie.

Weil die Technologie so teuer ist, haben nur wenige Menschen Zugang

Ähnliche Ziele verfolgt auch Tamara Shogaolu. Die Kreativdirektorin des Amsterdamer Studio Ado Ato Pictures erzählt in ihrer animierten Dokumentation „Another Dream“ die wahre Geschichte eines lesbisches Paares aus Ägypten, das aus seiner Heimat nach Holland flieht, weil es dort seine Liebe ausleben kann. „Man muss sicherlich nicht jede Geschichte mit der VR Technologie erzählen“, sagt Shogaolu, „aber manchmal bietet es sich wirklich an – eben weil man den Nutzer so gut involvieren kann.“ Ihr sei es wichtig, niemand von der neuen Technologie auszuschließen. Denn genau das sei derzeit noch das Problem. Nur wenige könnten sich eine VR-Brille leisten. Es sei Aufgabe aller, die sich mit dem relativ neuen Medium beschäftigen, es möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen.

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Da das Animationsinstitut der Filmakademie, das den VR Experience Day veranstaltet, seit jeher den Anspruch hat, neue Techniken und deren kreative Anwendungen zu fördern, hat es unter der Leitung von Andreas Hykade vor drei Jahren das Förderprogramm „VR Now“ ins Leben gerufen. Die beiden Teams, die ihre Ideen mit Hilfe des Programms weiterentwickeln, haben in Ludwigsburg, im Vergleich zu den meisten anderen Projekten, etwas leichtere Kost präsentiert.

Analoge und digitale Welt sind viel zu sehr getrennt

„S.M.I.L.E“, eins der beiden aktuellen Projekte, ist ein interaktives Wimmelbild für Kinder, in dem das Handy zur Lupe wird. Die kleinen Spieler sollen dabei auch Kompetenzen im Umgang mit Mobiltelefonen erlernen. „Wir finden, dass die analoge und digitale Welt viel zu sehr getrennt gedacht werden“, sagt Daniel Bahr, der die Idee dafür hatte. „Für uns steht nicht ein Medium im Vordergrund, sondern der Inhalt und die Story.“ Und die lässt sich manchmal eben am besten mit einer etwas unhandlichen Brille erzählen.