Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy liegt in Umfragen vor den Präsidentschaftswahlen zurück. Das spornt den Getriebenen erst recht an.

Paris - Zum Ende des Wahlkampfmarathons zieht er das Tempo an und geht auf Zickzackkurs. Die Sicherheitskräfte haben auf der Pariser Place de la Concorde eine Gasse durch die Menge gezogen und auf beiden Seiten Absperrgitter aufgestellt. Nicolas Sarkozy hat freie Bahn. Aber er nutzt sie nicht. Kaum hat Frankreichs Staatschef am linken Gitter in den Wald winkender Hände gegriffen, ist er auch schon am rechten, gibt den Präsidenten zum Anfassen. Die Gegenwart von 100 000 Anhängern elektrisiert ihn. Er läuft immer schneller. Wie eine von Riesenhand gestoßene Billardkugel flippt er zwischen den Banden hin und her, bis die Bühne vor ihm auftaucht, er zum Rednerpult hinaufsteigt.

 

Der Marathon hat Spuren hinterlassen. Furchen ziehen sich durch das Gesicht des 57-Jährigen. Das Lächeln wirkt gequält. Wenn ihr wüsstet, was ich durchmache, wärt ihr nicht so ausgelassen, scheint es zu sagen. Denn so leidenschaftlich er auch voranstürmt, er holt nicht auf, im Gegenteil.

Vier Tage vor der ersten Runde des Präsidentschaftsrennens ist er in der Wählergunst zurückgefallen. Mit 24 Prozent liegt er laut einer am Mittwoch veröffentlichten Umfrage des Instituts CSA fünf Punkte hinter dem sozialistischen Herausforderer François Hollande. Für die am 6. Mai folgende Stichwahl prophezeien die Meinungsforscher dem Amtsinhaber gar eine Niederlage mit vier bis 16 Punkten Rückstand auf den Rivalen.

Schon oft auf verlorenem Posten

Doch der Sohn des ungarischen Immigranten Pal Sárközy und der spanisch-griechisch-stämmigen Juristin Andrée Mallah ist niemand, der aufgibt. Stets hat er sich gegen das Schicksal aufgelehnt, stets mit Erfolg. Als Junge schon schien er auf verlorenem Posten. Der Vater hatte die Familie verlassen. Scheidungskind, von kleinem Wuchs, in der Schule mittelmäßig, sah sich Nicolas auf der Schattenseite des Lebens. Als die Mutter, die es nach Bürojobs zur Rechtsanwältin gebracht hatte, in den Pariser Nobelvorort Neuilly zog, fühlte sich der Sohn erneut zurückgesetzt. Als „Armer unter Reichen“ erlebte er sich dort.

Mit 18 soll er dem Freund André Santini in einer Eisdiele geschworen haben, es allen zu zeigen, französischer Präsident zu werden. Der Freund hat nicht gelacht. Zehn Jahre später war Sarkozy 1983 jüngster Bürgermeister Neuillys, 2002 Innenminister, 2007 Staatschef. „Ich bin der Bastard, der Präsident geworden ist“, sagt er stolz.

Und so kämpft er mit dem Mute der Verzweiflung. Auf der Bühne schlägt der Staatschef programmatisch Haken um Haken. Wo er bisher die Sparpolitik der Bundeskanzlerin unterstützte, fordert er jetzt, die Schuldenkrise, die aus einer Schwemme billigen Geldes erwuchs, mit billigem Geld der Europäischen Zentralbank anzugehen. Wo er sich am Vortag im Namen der Nation großmütig bei den Harkis entschuldigte, den von Frankreich nach der Niederlage im algerischen Befreiungskrieg im Stich gelassenen algerischen Hilfssoldaten, geißelt er jetzt die Neigung, dem Vaterland bei jeder Gelegenheit neue Schuld aufzuladen. Im Eiltempo stürmt der Wahlkämpfer dann durch glorreiche Epochen französischer Geschichte. Vom Feldherrn Napoleon über den Dichter Victor Hugo bis hin zum Staatsmann Charles de Gaulle: Sarkozy nimmt sie als Wahlhelfer in die Pflicht.

Die Bilanz von Sarkozy ist verheerend

Der Wirtschaftsanwalt muss auch wirbeln, dass den Franzosen Hören und Sehen vergeht – und vor allem das Erinnern. Es ist seine letzte Chance. Seine Bilanz ist verheerend. Er muss davon ablenken. Mehr Geld und mehr Arbeit hatte er versprochen, als er 2007 in den Élysée-Palast einzog. Mehr Schulden und mehr Arbeitslosigkeit hat er gebracht. Alles und das Gegenteil von allem hat er propagiert, hat das Banner des Wirtschaftsliberalismus hochgehalten und das des schützenden Nationalstaats, ungeniertes Schuldenmachen verfochten und unpopuläres Sparen.

Gewiss, Wirtschafts-, Euro- und Schuldenkrise haben auch in anderen Ländern Regierungsprogramme Makulatur werden lassen. Aber Frankreichs Staatschef hat die Gefahren steigender Staatsverschuldung spät erkannt, die Krise durch Steuersenkungen für Reiche und teure Konjunkturprogramme verschärft.

Die Habenseite zum Ende des Mandats

Was nicht heißt, dass zum Ende des Mandats nicht auch etwas auf der Habenseite stünde. Bevor Sarkozy die Bühne erklomm, hatten Jean-François Copé, Chef der regierenden UMP, und Arbeitsminister Xavier Bertrand die Verdienste des Staatschefs mit Fonstärken in die Hirne des Publikums gehämmert. Als EU-Präsident hat Sarkozy den Georgienkonflikt entschärft, den Europäern in der Finanzkrise den Weg gewiesen. Der Franzose hat sich für den Militäreinsatz in Libyen verkämpft, der zum Sturz Gaddafis führte. Zu Hause hat der Staatschef die nicht mehr finanzierbare Rente mit 60 abgeschafft.

„Doch irgendwie zieht das alles hier nicht“, sagt ein Getreuer am Absperrgitter. Die Trikolore, die der UMP-Anhänger mitgebracht hat, hängt traurig zu Boden. „Aber reden kann er verdammt gut“, fügt der Wahlhelfer hinzu, hält die Fahne wieder hoch. Sarkozy kann es in der Tat. Dirigent und Solist in einem, gibt er sich mit den Armen den Takt vor, setzt mit gekrümmtem Daumen und Zeigefinger Synkopen, kündigt mit geballter Faust das nächste Fortissimo an. Präsidentschaftswahlen seien die Verabredung des Volkes mit einem Mann, hat Charles de Gaulle einst treffend festgestellt. Aber wer will sich mit einem Mann verabreden, der so oft enttäuscht hat?

Die Angst vor griechischen Zuständen

Robert Pilain will am Wahlsonntag zum Rendezvous erscheinen. Der pensionierte Handelsvertreter hofft mit dem Votum für Sarkozy „die Katastrophe zu verhindern“. Wenn Hollande das Rennen mache, den EU-Fiskalpakt aufkündige, Staatsausgaben und Steuerlasten erhöhe, werde das die Wirtschaft abwürgen, prophezeit Pilain. Griechische Zustände würden einkehren. Augustin und Mathilde, die Architektur studieren und an der Seite des Rentners den Endspurt des Präsidenten verfolgen, nicken zustimmend.

Damit er die Wahl gewinnt, müsste Sarkozy nach Auskunft der Meinungsforscher Arbeiter und einfache Angestellte für sich einnehmen. Er müsste die schweigende Mehrheit auf seine Seite ziehen, die ihn 2007 auf den Schild gehoben und dann frustriert fallen gelassen hat. Der Präsident weiß das. Er umwirbt die Abtrünnigen.

Christophe Barbier traut dem Rechtsbürgerlichen zu, die Enttäuschten wieder zu umgarnen. „Die Franzosen lieben es, wenn die Politik abenteuerliche Züge annimmt“, glaubt der auch als Buchautor und Essayist ins Rampenlicht getretene Chefredakteur des Magazins „L’Express“. „Sind die Persönlichkeiten bunt und ihre Auftritte leidenschaftlich, sind die Franzosen bereit, über Schwächen hinwegzusehen.“

Die Gunst der europäischen Kollegen hat Sarkozy ja auch zurückgewonnen. So manches Mal hatte der unstete Staatschef sie verstört. Die Bundeskanzlerin hatte er verprellt. Aber als es im Wahlkampf zum Schwur kam, hat Angela Merkel ihm rückhaltlose Unterstützung versprochen. Die europäischen Kollegen sollen auf Betreiben der Deutschen übereingekommen sein, den sozialistischen Herausforderer Hollande nicht zu empfangen. Sarkozy ist ihnen lieber als ein Sozialist, der das EU-Fiskalpaket wieder aufschnüren, im eigenen Land allenfalls halbherzig sparen will.

Seine Carla applaudiert ihm lächelnd zu

Und dann kann Sarkozy noch auf seine Frau zählen. Carla Bruni weiß zu gefallen. Ihr seidenes Haar schimmert rötlich in der Nachmittagssonne. Im fliederfarbenen Mantel applaudiert sie dem Gatten, lächelt liebevoll zu ihm hinauf und in die Fernsehkameras hinein.

Und wenn das auch nichts hilft? Wenn sie und ihr Mann nur letzte Bilder der Chronik einer angekündigten Wahlniederlage liefern? Dann gewinnt der Wirtschaftsanwalt trotzdem. Dann wird er, hat er gesagt, in seinem erlernten Beruf so richtig Geld verdienen. Nach Herzenslust mag er auf Yachten befreundeter Unternehmer übers Mittelmeer segeln oder seine Beziehungen spielen lassen, um den Jura studierenden Filius Jean in schwindelerregend hohe Karrierepositionen zu hieven.

So oder so wird er es also allen zeigen, die in Neuilly einst nicht an ihn geglaubt haben. Am allerliebsten wäre er aber noch einmal Präsident.