Um eine Reihe von Themen ringen die Parteien in diesem Bundestagswahlkampf besonders. Wir zeigen Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten auf. Im vierten Teil geht es um die Zukunft der Krankenversicherung.

Stuttgart - Um eine Reihe von Themen ringen die Parteien in diesem Bundestagswahlkampf besonders. Wir zeigen Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten auf. Im vierten Teil geht es um die Zukunft der Krankenversicherung.

 
Hat die Krankenversicherung ein Gerechtigkeitsproblem?
Kassenpatienten müssen beim niedergelassenen Arzt länger warten. Privatpatienten gehen vor. Im Krankenhaus werden sie ebenfalls bevorzugt bedient. Hat die zweigeteilte Krankenversicherung – hier gesetzlich, dort privat – deshalb ein Gerechtigkeitsproblem? Darüber lässt sich streiten. Ganz sicher müsste man diese Frage bejahen, wenn es Patienten erster und zweiter Klasse im Hinblick auf die medizinische Behandlung gäbe. Wenn beispielsweise Kassenpatienten bestimmte moderne und teure Therapieformen vorenthalten würden, Privatpatienten aber in deren Genuss kämen. Dem ist aber nicht so, jedenfalls noch nicht. Der Grund, weshalb viele Experten der Krankenversicherung gleichwohl ein Gerechtigkeitsdefizit attestieren, liegt in der unsolidarischen Zweiteilung des Versicherungsmarkts. Im Prinzip gilt: Gesunde Gutverdiener, im Versicherungsjargon sogenannte gute Risiken, können sich in die Private Krankenversicherung (PKV) verabschieden. Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen bleiben in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zurück – und stehen in diesem Versichertenkollektiv mit vergleichsweise mehr arbeitslosen, alten und kranken Menschen allein für deren medizinische Versorgung ein.
Was schlagen die Parteien vor?
Die rot-rot-grüne Koalition steht schon mal – jedenfalls was die Reform der Krankenversicherung betrifft. SPD, Grüne und Linkspartei sprechen sich unisono dafür aus, eine Bürgerversicherung einzuführen. CDU/CSU und FDP lehnen das ab. Das Konzept: Alle Bürger sollen in eine gemeinsame Krankenversicherung einzahlen, also auch Beamte, Freiberufler, Selbstständige, Parlamentarier und Minister. Anders als in der GKV sollen sich die Beiträge nicht nur nach der Höhe des Arbeitsentgelts richten, vielmehr sollen auch andere Einkünfte in die Beitragsbemessung einfließen. Die Begründung dafür lautet, dass eine gerechte Lastenverteilung nur zu erreichen sei, wenn die tatsächliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des einzelnen berücksichtigt werde. Im Detail zeigen sich in der Frage der Beitragsbemessung gravierende Unterschiede. SPD und Grüne denken darüber nach, die Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der Rentenversicherung zu heben. Das würde einen kräftigen Sprung von derzeit 52 200 auf 76 200 Euro bedeuten – weitere 24 000 Euro pro Jahr würden beitragspflichtig. Nach dem Willen der Linken soll es gar keine Bemessungsgrenze mehr geben. Das Einkommen wäre uneingeschränkt beitragspflichtig.
Welche weiteren Reformideen gibt es?
Die Wirtschaftsweisen haben vor Jahren eine sogenannte Bürgerpauschale vorgeschlagen. Von der Bürgerversicherung übernahmen sie die Idee einer Versicherungspflicht für alle in einem System. Und von der CDU (die diesen Plan später fallenließ) borgten sie die Idee einer Kopfpauschale oder Gesundheitsprämie. Gemeint ist damit ein einheitlicher Beitrag, den alle Bürger unabhängig von ihrem Einkommen zahlen, auch nicht erwerbstätige Ehegatten. Nur Kinder und Jugendliche sind befreit. Die Wirtschaftsweisen nahmen damit das zentrale Problem lohnbezogener Versicherungsbeiträge ins Visier – sie wirken wie eine Einkommenssteuer negativ auf Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage. Pauschalbeiträge dagegen führen zu einer Abkopplung der Gesundheits- von den Arbeitskosten, was sich positiv auf Wachstum und Beschäftigung auswirken könne, so die Wirtschaftsweisen. Vorgesehen ist auch ein Sozialausgleich: Geringverdiener erhalten einen Zuschuss vom Staat für ihren Versicherungsbeitrag, der aus Steuermitteln finanziert wird. Das sorge für mehr Effizienz und Transparenz mit Blick auf die im derzeitigen GKV-System völlig undurchschaubaren Transferströme, so die Forscher.
Wie würden die Versicherten die Bürgerversicherung zu spüren bekommen?
Gelegentlich ist zu hören, dass die Bürgerversicherung insgesamt zu einer sinkenden Beitragsbelastung führen könnte. Dem widerspricht eine jüngst vorgestellte Studie. Würden die Pro-Kopf-Ausgaben von GKV und PKV so vereinheitlicht, dass die Gesamteinnahmen und -ausgaben unverändert bleiben, würde das die heutigen GKV-Versicherten zusätzlich belasten. Die heutigen PKV-Versicherten, von denen viele immer wieder über kräftige Prämienerhöhungen klagen, würden entlastet. Zu diesem Ergebnis kommt das Kieler Institut für Mikrodaten-Analyse (IfMDA). Institutsleiter Thomas Drabinski erläutert: Wenn man, wie von der Politik vorgegeben, davon ausgehe, dass das Gesundheitssystem bei einem solchen Wechsel insgesamt nicht schlechter dastehen solle als heute, bedeute dies eine Angleichung der Leistungen für GKV-Versicherte an die der PKV-Versicherten – und damit höhere Beiträge. Zurzeit liegt der Durchschnittsbeitrag in der GKV bei 15,7 Prozent. Nach den Berechnungen wären es dann 17,2 Prozent. Bei Einführung einer Bürgerversicherung würden die Privatversicherer laut Drabinski zudem einen unverhofften Gewinn einfahren, da Altersrückstellungen der PKV von rund 210 Milliarden Euro (bis Ende 2017) zur eigenen unternehmensinternen Verwendung einbehalten werden könnten.
Wie wahrscheinlich ist ein Systemwechsel?
Die Einführung einer Bürgerversicherung stellt eine enorme Herausforderung dar. Vor allem die Altersrückstellungen in der PKV sind ein Problem. PKV-Mitglieder legen über viele Jahre aus ihren Prämien etwas für das Alter zurück, um dann steigende Beiträge aufzufangen. Was würde aus diesen Rückstellungen? Die Menschen in ein anderes System zu zwingen, dürfte rechtlich schwierig sein, sie müssten ja auf die Rückstellungen verzichten. Wenn überhaupt, wäre eine Umstellung nur mit langjährigen Übergangsregelungen denkbar.