Mit gutem Gefühl für den Spirit der Straße ist ihnen ein Volltreffer gelungen: Zwei Nebenerwerbswirte haben aus einem Animierlokal das Rocco gemacht – die Aufsteiger-Bar des Jahres. Wir sprachen mit ihnen über den Wandel der Altstadt.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Sex liegt in der Luft. Niemals ratsam ist es, die Vergangenheit von Häusern und Plätzen zu leugnen. Der beste Dampfstahlreiniger bekommt nicht raus, was tief im Gemäuer der einstigen Bier-Bar sitzt.

 

Einst hat hier das weibliche, möglicherweise nicht immer vollständig bekleidete Personal männliche Gäste in Separees gelockt, um diesen Geld für Schampus zu überhöhten Preisen aus der Tasche zu ziehen. Jetzt, da rotes Licht hier nicht mehr sexuelle Dienstleistungen verheißt, gehen im Rocco Drinks über den Tresen mit coolen Namen wie Porn Star Martini oder Naked & Famous. Hübsche Randbemerkungen sind dies – vielleicht sogar Sympathiebekundungen - für das Viertel, dem man neue Farben gönnt.

Hier war das „Wohnzimmer“ von Fälscher Konrad Kujau

Wer weiß, wozu die Rocco-Tapeten mit erotischen Motiven in der Lage sind, hat seinen Spaß daran, wenn er das Smartphone draufhält und mit der richtigen App via QR-Code Bilder zum Laufen bringt. Die Nebenerwerbswirte Florian Roller und Robin Giesinger, beste Kumpels seit Schülertagen, haben in der Altstadt mit gutem Gefühl für den Spirit der Straße einen Volltreffer gelandet.

Ihr jüngstes Baby, das Rocco, brummt seit dem Start im vergangenen Oktober. Der Ansturm und die Begeisterung im einstigen „Wohnzimmer“ von Fälscher Konrad Kujau haben alles übertroffen, was sich die beiden erträumt haben. Quer gegenüber führen sie seit einem Jahr die Bar Puf (mit einem Puff hat sie nichts zu tun). Damit locken Roller und Giesinger bereits ein Publikum an, das man sonst im Rotlicht nicht vermutet.

Das Viertel ist abschreckend und einladend zugleich

Als der Hausbesitzer der alten Animierbar, die mit ihren Separees nicht mehr lief, die Puf-Wirte fragte, was sie von einer zweiten Location hielten, sagten sie rasch zu. So viel Spaß macht ihnen das Leonhardsviertel. Gleichzeitig stand fest: Ihre Arbeit als Betriebswirt in einem Steuerberatungsbüro und Controller in der Automobilindustrie geben sie nicht auf. Tagsüber also sind die Best Buddys in normalen Berufen unterwegs. Von donnerstags bis samstags werden sie zu Barmännern der Nacht – und damit zu Förderern eines Wandels in der Altstadt, weg vom Schmuddel. Abschreckend und einladend zugleich präsentiert sich das Viertel.

Wer aus den Barfenstern blickt, bekommt so manches mit. Etwa den Mann, von dem Flo Roller erzählt, der mit Spucke den Ehering abstreift – als wär’s den Beschäftigten in den Laufhäusern wichtig, dass ihre Freier unverheiratet sind. Man kann sehen, wie ein Kleinbus mit rumänischem Kennzeichen junge Frauen zum Arbeiten ankarrt. Was die Barbetreiber über die Armutsprostitution und ihre Folgen hören, setzt ihnen zu.

Die Fassadenfarbe ist ein Signal: frisch und fröhlich soll’s sein

Die vier runden Korbmarkisen am Rocco-Haus sind neu bespannt und blau. Mit dem auffälligen Anstrich der Fassade sind sie ein Signal: Frisch und fröhlich darf’s hier nun sein – die Altstadt kann mehr als nur rot und düster. Bei den Bargästen kommt der Farbmischton orange-rot-pink (Farbname: Koralle) sehr gut an, nur bei der Stadt Stuttgart nicht. Im Rathaus verlangt man von den Hausbesitzern, die Fassade erneut zu streichen. Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. „Sollen die Paragrafenreiter mal nach Amsterdam schauen“, sagt ein Gast im Rocco, „da sind bunte Häuser ganz normal, was gut fürs Flair einer Stadt ist.“

Mit Liebe fürs Detail haben Florian Roller und Robin Giesinger die alte Animierbar umgebaut. Die Separees wurden entfernt, Gleitgels und anderes fand man. Die Bretter der Abtrennungen wurden klein gehackt. Wenn die erzählen könnten, was sie in den vergangenen Jahrzehnten hier los war! Mit der Würde des Menschen, kann man sich vorstellen, hatte dies nicht immer was zu tun.

Zuletzt war die Animierbar tiefrot. Als Roller und Giesinger vor dem Umbau mit Freunden eine Baustellenparty feierten, hörten sie immer, sie sollten das alte Ambiente doch lassen. „Wir haben es uns überlegt“, sagt Giesinger, „aber es war doch so versifft, dass wir lieber alles rausgerissen haben.“ Eine nicht mehr ganz junge Frau, die in der Bier-Bar mit den Separees der Arbeit nachging, hat ihren Broterwerb nicht verloren. Obwohl wahrscheinlich im Rentenalter, arbeitet sie nun in einer anderen Bar einige Meter weiter.

„Ein Milieu gibt’s bei uns schon lange nicht mehr“

Zwischen der Fou-Fou-Bar, der Gin-Bar Botanical Affairs, der 1920er-Jahre-Bar Holzmaler auf der Seite zum Wilhelmplatz und dem Rocco und der Bar Puf auf der Seite zum Siegle-Haus erwacht neues Altstadtleben in der Nacht – tagsüber ändert sich aber nur wenig. Die Verruchtheit des Viertels mag bei Dunkelheit Gäste mit voyeuristischer Neugierde anziehen, in erster Linie aber kommen junge Menschen, die einfach nur feiern wollen. Würden die Bars auch an einem anderen Ort funktionieren, etwa an der Theo? Es wäre wohl schwerer für sie.

Dass die neuen Farben das Sexgewerbe zurückdrängen, kann Maria Kaiser, ehrenamtliche Helferin des Prostitutiertencafés La Strada, nicht erkennen. „Meine Mädels müssen immer noch mehr anschaffen“, sagt sie, „weil sie nach dem neuen Gesetz eine neue Bleibe brauchen und die Doppelmiete kaum bezahlen können.“ Ihr Eindruck ist: „In letzter Zeit werden die Mädels öfter ausgetauscht.“

Als Konkurrenz sieht Altstadt-Legende Oskar Müller von der Uhu-Bar die neuen Kollegen nicht. „Ist doch gut, wenn Junge das Viertel auffrischen“, sagt der 82-Jährige, „ein Milieu gibt’s bei uns ja schon lange nicht mehr.“ Der erste Eindruck der junge Wirte Roller und Giesinger war beim altgedienten und allseits geschätzten Oskar jedenfalls gut. Denn die beiden kamen vorbei und stellten sich bei ihm vor. „Die jungen Leute haben Manieren“, lobt der Grandseigneur des Rotlichts. Gefällt ihm, wenn die Altstadt doch nicht vor die Hunde geht.