Kein Deutsch, andere Regeln, große Sorgen: Brigitte Heidebrecht hat viele junge Flüchtlinge betreut. Das war für beide Seiten eine Zumutung.

Region: Verena Mayer (ena)

Ludwigsburg - Früher ist Brigitte Heidebrecht gerne und viel ins Ausland gereist. Seit 2015 das Ausland nach Deutschland kam, lernt sie die fremden Kulturen vor ihrer Haustüre kennen. Über Erlebnisse als ehrenamtliche Flüchtlingshelferin hat sie ein Buch geschrieben, das mit jeder Auflage dicker wird. Ihre kurzen Geschichten – einige Passagen sind hier in Rot zu lesen – sind sind schonungslos, tragisch und manchmal auch lustig. Ihre große Stärke: Auch Menschen, die mit Flüchtlingen nichts zu tun haben wollen, können sich in ihnen wiederfinden.

 

Sami schwänzt den Deutschkurs, den ich ihm bezuschusst habe. Schließlich verrät er mir den Grund: Er wird von seinem Heimatland aus erpresst. Der Vater ist seit Tagen verschwunden. Wenn du nicht zahlst, bringen wir deinen Vater um. Also sucht Sami sich eine Arbeit auf dem Schwarzmarkt und lässt den Deutschkurs Deutschkurs sein. Nachdem er die verlangte Summe eingelöst hat, lernt er im nächsten Kurs weiter.

Frau Heidebrecht, was Sie da beschreiben, klingt ziemlich abgeklärt. Regen Sie sich nicht mehr auf über Unzuverlässigkeiten?

Oh doch, ich kann mich immer noch wahnsinnig aufregen über alles Mögliche. Aber ich weiß, dass ich immer nach den Gründen fragen muss. Und die Gründe sind bei meinen afghanischen Jungs so was von anders und so was von schwerwiegend. Die leben unter so anderen Bedingungen als wir und sind so anderen Belastungen ausgesetzt – da habe ich allen Grund, demütig zu sein.

Und darum darf man Sie einfach versetzen?

Nein, ganz bestimmt nicht. Mit dem unterschiedlichen Zeitverständnis umzugehen, ist echt eine Herausforderung. Diese Nichtkalkulierbarkeit ist für mein deutsches Gemüt ja ganz schrecklich. Aber inzwischen setze ich meinen Jungs die Pistole auf die Brust. Analog zur Flensburger Verkehrssünderkartei habe ich mir ein Punktesystem überlegt: Für eine Viertelstunde zu spät kommen gibt es einen Punkt, für eine halbe Stunde zwei Punkte, wer gar nicht kommt, kriegt drei Punkte. Bei acht Punkten sind ein paar Monate „Brigitte-Entzug“ fällig. Das genaue Strafmaß muss ich mir noch überlegen.

Und das hilft?

Es scheint zu wirken. Mit Druck und Bestrafung zu arbeiten ist überhaupt nicht meine Art. Aber wenn man an seine Grenzen kommt, muss man die manchmal eben überschreiten. In der Arbeitswelt funktioniert es ja auch: Die Jungs wissen, wer fehlt, riskiert seinen Job. Diese Strenge, diese Sanktionen sind genau das Muster, das sie von zuhause kennen.

Ich höre von einem sehr engagierten Ehrenamtskollegen: Schon eine Weile hat er einen Syrer und seinen Sohn betreut. Der Vater ein Teppichhändler, ein richtig netter Kerl, der Sohn ein kluger Kopf, der demnächst studieren wird. Und dann hat auch noch der Familiennachzug geklappt. Jetzt ist die Frau bzw. die Mutter da. Was für ein Erfolg! Und was passiert nun? Die Frau verlässt das Zimmer nicht. Wenn sie auf die Toilette geht, riegeln Ehemann und Sohn den Flur ab, damit sie ja keiner sieht. Und Deutschkurs? Nein, da will der Ehemann sie nicht hingehen lassen. Das brauche sie nicht.

Sie haben einen Ihrer Schützlinge unterstützt, als er seiner Familie in Afghanistan das Okay für die Verheiratung seiner Schwester geben sollte. Sie, als ausgewiesene Feministin – wie geht das?

Das war der Hammer. Da hat es mir die Sprache verschlagen. Allerdings nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal. Diese Momente tiefster Verwirrung sind aber die Momente, aus denen man wirklich etwas lernt. Dafür bin ich dankbar.

Was haben Sie in diesem Fall gelernt?

Ich versuche, die Perspektive zu wechseln und mich in die Rolle meines Gegenübers hineinzuversetzen. Wenn man die Rollen umdreht, sieht man plötzlich viel klarer, was Sache ist. Und die Sache in diesem Fall war, dass ich einem 19-jährigen Jungen geholfen habe, seine Gedanken zu sortieren und eine Entscheidung zu treffen, die in seiner Heimat Afghanistan selbstverständlich ist.

Und die Braut?

Für die junge Frau stand keine bessere Option zur Verfügung. Eine Frau in Afghanistan wird verheiratet. Punkt. Und der Bräutigam machte, nach allem was man wusste, einen guten Eindruck. Nach dem Ermessen meines Schützlings war es die beste Lösung für seine Schwester.

Und für Sie?

Ich wünsche mir natürlich nicht, dass Menschen mit diesem Familienbild zu uns kommen. Noch nicht mal, dass sie wo anders so leben. Aber die Leute sind nun mal hier, und wenn man sie zurückschickt, ist ihr Leben in Gefahr. Mein Schützling ist ein entzückender junger Mann, ich möchte, dass er glücklich wird. Mir ist inzwischen klar, dass ihm das mit einer deutschen Frau nicht gelingen wird. Und einer deutschen Frau mit ihm auch nicht. Die Kulturen sind zu weit auseinander. In der nächsten Generation kann das klappen.

Fazel hat eine Arbeitskollegin im gleichen Alter, und die hat Gefallen an ihm gefunden. Jetzt gehen sie manchmal zusammen spazieren. Dabei hat sie ihn neulich eingehakt. Mitten auf der Straße. Da war ihm seltsam zumute und er bedeutete ihr, dass er das so nicht möchte. Ich schäme. . , sagt er zu mir.

Einem Ihrer Schützlinge, der sich nach Ihrem Mann erkundigt hatte, erzählten Sie, der sei auf Dienstreise in Amerika. Tatsächlich sind Sie mit einer Frau verheiratet. Warum haben Sie den Mann in Amerika erfunden?

Ich kannte den jungen Mann damals noch nicht lange, und ich wollte ihn nicht überfordern. Wahrscheinlich wäre er schreiend davon gerannt, hätte ich gleich die Wahrheit gesagt. Annäherung braucht Zeit, das ist eine Entwicklung.

Und mit der Zeit hat er mit Ihrer Ehe umgehen können?

Nach etwa einem Jahr habe ich ihm gesagt, dass es gar keinen Mann in Amerika gibt. Wir kannten uns inzwischen gut. Erst einmal blieb ihm der Mund offen stehen, aber letztlich war das auch für ihn eine dieser Situationen, wo man wirklich lernt. Er hat seiner Mutter erzählt, dass ich mit einer Frau lebe – zu seinem großen Erstaunen sagte sie, dass es das in Afghanistan auch gebe.

Ein bestärkendes Erlebnis, oder? Wenn das geht, geht alles.

Es geht sehr viel, wenn man gut in Kontakt ist. Deswegen werbe ich ja auch so für Patenschaften. Wenn Flüchtlinge ein ganzes Stück mit einem oder einer Deutschen Seite an Seite gehen, dann gucken sie sich viel von uns ab. Und wenn man Vertrauen hat und miteinander redet, dann geht so manches und dann lernt man gegenseitig voneinander. Mir tut es zum Beispiel gut, ein Stückchen orientalischer zu werden und mal etwas liegen zu lassen, statt es noch schnell, schnell zu erledigen. Ich empfinde das als Gewinn.

Wenn ich ehrlich bin: Auch ich fühle mich manchmal überfordert in meiner Toleranz. Auch ich fühle mich manchmal „überfremdet“, wenn in der S-Bahn um mich herum kaum jemand Deutsch spricht. Dieses Babel um mich herum. Ja, es irritiert. Auch wenn ich einen Einzelnen aus der Menge dieser Fremden inzwischen als meinen Ziehsohn betrachte. Individuum und Gesellschaft, das ist nicht dasselbe.

Was meinen Sie: Wird die Integration der Flüchtlinge gelingen, die 2015 hierher gekommen sind?

Migration ist eine wirkliche Herausforderung für alle Beteiligten. Aber man kann sie nicht rückgängig machen. Die Migrationsforschung rechnet, dass Integration drei Generationen brauche. Bei manchen vielleicht länger. Ich kann wirklich nicht sagen, dass ich mir diese Entwicklung gewünscht hätte. Weder, dass diese jungen Menschen so teuflisch entwurzelt werden. Noch dass sie unbedingt zu uns kommen. Noch, dass manche unserer Zeitgenossen ihnen so feindlich gesinnt sind. Aber nun sind sie hier, und man muss das Beste aus allem machen.

Sie geben also weiter Ihr Bestes?

Natürlich. Das Beste was passieren kann ist doch, dass solche Dorfjungs aus Afghanistan auf eine Frau wie mich treffen. Das heißt: Wir lernen beide was. Und so sehe ich den Gewinn von Migration.

Ein bewegtes leben: die Autorin und ihr Werk

Person Brigitte Heidebrecht ist 69 Jahre und lebt in Ludwigsburg. In einem früheren Leben war sie Gymnasiallehrerin, arbeitete an einer Volkshochschule und in einem Sozialamt. Dann sattelte sie um: Im Hauptberuf ist sie nun Coach, Mediatorin, Supervisorin – kurz: Beraterin.

Im Nebenberuf arbeitet sie als Tanzpädagogin.

Schreiben
Brigitte Heidebrecht hat viele Bücher geschrieben. In den 80er und 90er Jahren gehörten sie in jede linke Buchhandlung. Ihr aktuelles Buch „Fernreise daheim – Von Flüchtlingen, Kulturen, Identitäten und anderen Ungereimtheiten“ hat sie im Eigenverlag Große Sprünge veröffentlicht. Die vierte Auflage hat 207 Seiten und kostet zwölf Euro. Der Erlös geht in die Flüchtlingshilfe. Bestellt wird es info@verlag-grosse-spruenge.de oder unter 0 71 41/92 57 94.