60 Millionen Menschen sind aktuell weltweit heimatlos. Wiederholt sich Geschichte immer wieder? Und wie erzählt man davon? Die Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung versucht es. Ein Blick hinter die Kulissen.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Berlin - Die Geschichte scheint endlos. Auch wenn Gundula Bavendamm sehr bestimmt deutlich macht, dass sie nicht vorhat, als Chefin eines zweiten Berliner Projektes im Stil des Flughafens in die Annalen einzugehen, geht die Sache seit 1999. Da hat Erika Steinbach als Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen den ersten Stein ins Wasser geworfen. Das ist jetzt fast zwei Jahrzehnte her. In denen hat sich die Welt verändert. Erika Steinbach ist nicht mehr im Amt. Seit April 2016 ist Bavendamm (52) die Direktorin der Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung. Zwei Vorgänger hat sie. Sie steht für die Zukunft, den Neuanfang – Stiftung reloaded also.

 

Aber vielleicht haben die politischen Diskussionen in In- und Ausland, die Intrigen und die planerischen Notwendigkeiten, die so viel Zeit gekostet haben, ihr Gutes. Wie könnte man angemessen über das Thema Zwangsmigration erzählen, ohne nicht auf die 60 Millionen Menschen Bezug zu nehmen, die aktuell laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR weltweit auf der Flucht sind? Denn die Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung und ihre Direktorin wollen zwar vom Schicksal der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen während und infolge des Zweiten Weltkriegs erzählen. Bavendamm will das nicht nur in den historischen Kontext des Nationalsozialismus einbetten, sie will es auch „in Bezug zu den großen Fragen, die sich eine Gesellschaft in der Gegenwart stellt“, einbinden.

Der Museumsmarkt in Berlin ist heiß umkämpft

So steht es auch im Konzept für die Dauerausstellung, das im Juni 2017 einstimmig verabschiedet und politisch abgesegnet worden ist. Bavendamm und ihr 23-köpfiges Team aus Historikern, Archivaren und Kuratoren müssen nun also sowohl deutlich machen, dass die Stiftung „nicht der Dienstleister des Bundes der Vertriebenen“ ist, als auch ihr Haus so aufstellen, dass es vor allem junge Besucher anspricht, deren Zugang zum Thema die Gegenwart und die aktuellen Wanderungsbewegungen sind. Bavendamm weiß: Der Museumsmarkt in Berlin ist heiß umkämpft. Das Dokumentationszentrum mit Dauer- und Wechselausstellung, Bibliothek und Veranstaltungsräumen muss eine einprägsame Marke werden.

Allen Fluchtbewegungen auf der Welt sei die Erfahrung gemein, dass Menschen, Besitz und sozialen Status unter Gefahr für Leib und Leben zurückgelassen haben und sich in einer fremden Gesellschaft integrieren müssen, ist Bavendamm überzeugt. Als Historikerin sieht sie jedoch auch Unterschiede. Was die Vertreibung der Deutschen einmalig in Europa mache, sei die bloße Zahl: 14 Millionen mussten gegen ihren Willen ihre Heimat verlassen. Dazu kommt die Vertreibung – der deutschen Juden aus dem Land, zu dem sie untrennbar gehörten. Auch das wird vorkommen. Vorerst wird das ehemalige Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof – zwischen der Topografie des Terrors und dem Mahnmal für die ermordeten Juden Europas schon mal geografisch und auch erinnerungspolitisch ideal gelegen – noch immer umgebaut. Im Jahr 2020 soll dann die lang erwartete Eröffnung sein.

Ein achtjähriger Junge, der seine Großmutter über 1000 Kilometer im Leiterwagen zog

So lange trägt die Stiftung ihren Schatz zusammen, führt Zeitzeugengespräche, sammelt Exponate, die die deutsche Geschichte illustrieren. Wie etwa ein wollener Räuber Hotzenplotz, den eine Frau ihrem Mann zur Erinnerung an seine Kindheit im mährisch-schlesischen Grenzgebiet gestrickt hat. Oder den Leiterwagen, mit dem ein achtjähriger Junge seine Großmutter 1944 über 1000 Kilometer aus dem Donauschwäbischen im Sudetenland gezogen hat. Alles Schenkungen von Menschen, die froh sind, gerade noch rechtzeitig einen Platz für ihre Erinnerung gefunden zu haben. „Das sind unsere Herzstücke“, sagt die Kuratorin Andrea Kamp. Wann erlebt man schon mal, dass ein über 80-Jähriger, der noch nie gezeichnet hat, in seinem Pflegeheim in Berlin-Marzahn plötzlich im Stil der jüdischen Künstlerin Charlotte Salomon den Lageralltag bei seiner Zwangsarbeit malt, als sollte es eine moderne Grafic Novel werden. Das sind die emotionalen Sternstunden der Kuratoren. Im Depot in Berlin-Kreuzberg, erster Stock, Hinterhof, fasst die Andrea Kamp all diese Gegenstände nur mit weißen Stoffhandschuhen an. Aus Alltagsdingen werden Ausstellungsstücke.

Es gibt aber auch Exponate, die der Gegenwart entstammen wie die orangefarbene Schwimmweste, die 2016 ein Flüchtling am Strand von Pozzallo in Sizilien zurückgelassen hat. Oder die Medaille von 1920, die an die Helfer der verfolgten und vertriebenen Armenier erinnert. Die Gegenstände, die Orte und die Zeit, in die sie gehören, sind erinnerungspolitische Landmarken, will man in Deutschland möglichst unangreifbar von der Zwangsmigration im 20. Jahrhundert erzählen.

Die Direktorin wusste bei Amtsantritt um den Schleudersitz

Über eines der Ausstellungsstücke, einen roten MAN-Lkw, mit dem die Geistlichen in der katholischen Diaspora zu den vertriebenen Katholiken ohne Kirche gefahren sind, schwärmt auch die Direktorin. So was findet man eigentlich nicht mehr. Aber das sagt sie dann schon auch bei aller Begeisterung: Sie habe bei Amtsantritt um den Schleudersitz ihres Amtes gewusst. Freunde hätten sie gefragt, ob sie sich das wirklich antun wolle. Sie wollte, auch weil sie fest davon überzeugt ist, dass ein Erinnerungsort zur Flucht und Vertreibung der Deutschen fehle und „weil mir das Thema am Herzen liegt“. Kurz nachdem die Kulturstaatssekretärin Monika Grütters (CDU) sie angefragt hatte, sagte sie zu.

Bavendamm, die zuvor das Alliiertenmuseum in Berlin geleitet hat, soll nun vollenden, was 2008 per Gesetz den sperrigen Namen Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung bekommen hat. Zwischen Revanchismus und der Notwendigkeit, endlich den Erlebnissen der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs im kollektiven Gedächtnis einen Platz einzuräumen, bewegten sich die Argumente in der Debatte. Es gibt die Meinung, die Stiftung sei nur gegründet worden, um Erika Steinbach auszubremsen.

Der Schatz der Stiftung birgt noch immer Untiefen

Im November 2015 hatte die Stiftung zudem gerade ihren designierten Direktor Winfried Halder verloren. Der Leiter des Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Hauses sagte aus „persönlichen Gründen“ ab, die nicht wenige im politischen Rumlavieren seiner zukünftigen Arbeitgeber sahen. Da hatte die Stiftungsidee schon gut anderthalb Jahrzehnte auf dem Buckel und die Ablösung ihres Gründungsdirektors Walter Kittel. Nicht nur die ausländischen Wissenschaftler hatten ihre Mitarbeit im wissenschaftlichen Beraterkreis niedergelegt. Im Stiftungsrat ließen auch die Vertreter des Zentralrats der Juden ihren Sitz ruhen. Der Vorwurf damals lautete, unter Kittel sei das Konzept des Dokumentationszentrums zu stark auf das Leiden der Deutschen verengt worden.

Das scheint nun alles Vergangenheit. Auch wenn polnische Historiker dem wissenschaftlichen Beirat weiter fernbleiben. Das mag den politischen Verschiebungen Polens geschuldet sein. Die erinnerungspolitische Landschaft ist durch das Erstarken des Nationalismus in Europa und in Deutschland nicht einfacher geworden. Bavendamms Schatz birgt also noch immer Untiefen. Sie muss die Quadratur des Kreises leisten: ein hochemotionales Thema rational und klug in die Gegenwart einbinden.