Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Soziologie: Robert Levine

Der amerikanische Sozialpsychologe Robert Levine ist ein versierter Zeitpionier. In den 1990er Jahren bereiste er 31 Länder, um das unterschiedliche Zeitbewusstsein der Menschen zu erforschen. Heraus kam eine „Landkarte der Zeit“, die beschreibt, wie Menschen ihre Zeit begreifen, nutzen und messen. Das schnellste Lebenstempo legen die Schweizer vor, gefolgt von Deutschen, Iren und Japanern.

 

Levine legt drei Indikatoren zugrunde, um den Umgang mit der Zeit zu berechnen: die Schrittgeschwindigkeit von Fußgängern in Innenstädten, das Arbeitstempo von Postbediensteten und die Genauigkeit öffentlicher Uhren. Länder mit einer individualistischen Kultur und schnell wachsenden Wirtschaft werden, so Levine, stärker vom Takt der Uhr und Termindruck bestimmt als ärmere Gesellschaften, in denen der soziale Zusammenhalt noch ausgeprägter ist.

Ethnologie und Religion

In der Mythologie der Aborigines, der australischen Ureinwohenr, spielt die „Traumzeit“ eine zentrale Rolle. Mit Träumen hat dies wenig zu tun. Vielmehr geht es um die universale, zeit- und raumlose Welt, aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im ewigen Schöpfungsprozess hervorgehen. Sie ist Quelle allen Seins und verbindet die Welt der Lebenden mit der der Ahnen.

Für viele Afrikaner ist Schlangestehen keine Zeitverschwendung, sondern eine sinnvolle Beschäftigung. Ihr Lebenstempo ist gemächlicher, man nimmt sich mehr Zeit für spontane Gespräche. In Burundi etwa kommt man ohne Uhren aus, weil sich die Menschen am Rhythmus der Natur orientieren. Levine zufolge geht es auch in Brasilien betont langsam zu. Brasilianer hätten „jeden Anspruch auf Orientierung an der Uhr aufgegeben“. Es sei unhöflich, pünktlich zu Terminen und Treffen zu kommen.

Rechter Augenblick wichtiger als Pünktlichkeit

Die südamerikanischen Quetschua- und Aymara-Indianer kennen für Zeit nur das Wort „pacha“. Ungeduld und Stress sind ihnen unbekannt, sie lassen sich nicht so schnell aus der Balance bringen.

Zeiterleben in Dichtung, Philosphie und in der Physik

Der folgende Gang durch den Kosmos der Zeitvorstellungen soll einen Eindruck des Zeiterlebens der Völker vermitteln:

Dichtung: Johann Wolfgang von Goethe

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) wusste es: „Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!“, heißt es in seiner Tragödie „Faust“.

Philosophie: Platon

Wie so vieles in der Geistesgeschichte beginnt auch die Enträtselung der Zeit in der Antike. Der griechische Philosoph Platon (427-348 v. Chr.) war der Erste, der sich systematisch mit der Frage nach der Abfolge und Veränderung von Ereignissen beschäftigte. Gemäß seinem Grundsatz, dass die Ideen das eigentliche Seiende sind, erklärt er, dass die Erscheinungen in Raum und Zeit nur Abbilder der unbewegten Ewigkeit seien.

Aristoteles

Für Platons Schüler Aristoteles (384-332 v. Chr.) geschieht dagegen alle Veränderung in der Zeit, die selbst unwandelbar ist. Als Maß jeder Bewegung ist sie das Kontinuum, das die Welt im Innersten zusammenhält.

Augustinus

Augustinus (354-430 n. Chr.) verlagert die Zeit von der objektiven Welt ins menschliche Bewusstsein. Der Kirchenvater unterscheidet zwischen einer physikalisch-messbaren Zeit und einer psychologisch-erlebnisbezogenen Zeit. Vergangenheit und Zukunft sind gegenwärtig nur im Augenblick – als Erinnerung und Erwartung, die man im Bewusstsein wahrnimmt.

Isaac Newton

Für den Physiker und Mathematiker Isaac Newton (1643-1727) steht fest, dass Zeit und Raum „Behälter“ für Ereignisse sind, die ebenso real sind wie die darin beförderten Objekte. „Zeit ist, und sie tickt gleichmäßig von Moment zu Moment.“

Immanuel Kant

Dem widerspricht der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804): Zeit und Raum seien „reine Anschauungsformen“ des Geistes, subjektive Kategorien, mit denen wir die uns umgebende Welt wahrnehmen und die Sinneseindrücke verarbeiten.

Martin Heidegger

Der Philosoph Martin Heidegger (1889–1976) deutet Zeit als zentrale, das Dasein bestimmende Wirklichkeit. Dadurch, dass der Mensch auf Zukunft ausgerichtet ist, ergreift er in jedem Akt seines Denkens und Handels die Möglichkeiten, die ihm seine Existenz bietet – begrenzt nur durch den Tod.

Physik: Albert Einstein

Kein anderer Naturwissenschaftler hat das moderne Bild von Raum und Zeit so geprägt wie Albert Einstein (1879-1955). 1905 veröffentlichte der Physiker seine „Spezielle Relativitätstheorie“. Sie erklärt, dass eine Stunde nicht gleich eine Stunde ist, sondern mal schneller und mal langsamer vergehen kann. Es kommt auf die Geschwindigkeit an, mit der man sich bewegt. Uhren und zeitliche Maßstäbe haben nicht die absolute Bedeutung, die wir ihnen zuschreiben. Bewegte Uhren gehen langsamer, bewegte Maßstäbe werden kürzer: Das sind zwei der revolutionären Erkenntnisse aus Einsteins Zeit-Universum.

Science Fiction

Zeitreisen sind ein beliebtes Thema in der Science-Fiction-Literatur, doch in der Realität (noch) undurchführbar. Um durch ein Wurmloch zu fliegen, das Bereiche der Raumzeit mit unterschiedlicher Zeitdimension verbindet, wäre eine Technologie vonnöten, die die Möglichkeiten der Menschheit (derzeit) bei weitem übersteigt.

Biologie

Viele Pflanzen und Tiere besitzen eine innere Uhr, die abhängig vom Tag-Nacht-Wechsel und von natürlichen Lebenszyklen ist. Psychologisch hängt die Zeitwahrnehmung davon ab, was in einem bestimmten Zeitraum geschieht. Spannende Erlebnisse vergehen wie im Flug, während bei Langeweile aus Minuten Stunden werden.

Zeiterleben bei den Völkern

Soziologie: Robert Levine

Der amerikanische Sozialpsychologe Robert Levine ist ein versierter Zeitpionier. In den 1990er Jahren bereiste er 31 Länder, um das unterschiedliche Zeitbewusstsein der Menschen zu erforschen. Heraus kam eine „Landkarte der Zeit“, die beschreibt, wie Menschen ihre Zeit begreifen, nutzen und messen. Das schnellste Lebenstempo legen die Schweizer vor, gefolgt von Deutschen, Iren und Japanern.

Levine legt drei Indikatoren zugrunde, um den Umgang mit der Zeit zu berechnen: die Schrittgeschwindigkeit von Fußgängern in Innenstädten, das Arbeitstempo von Postbediensteten und die Genauigkeit öffentlicher Uhren. Länder mit einer individualistischen Kultur und schnell wachsenden Wirtschaft werden, so Levine, stärker vom Takt der Uhr und Termindruck bestimmt als ärmere Gesellschaften, in denen der soziale Zusammenhalt noch ausgeprägter ist.

Ethnologie und Religion

In der Mythologie der Aborigines, der australischen Ureinwohenr, spielt die „Traumzeit“ eine zentrale Rolle. Mit Träumen hat dies wenig zu tun. Vielmehr geht es um die universale, zeit- und raumlose Welt, aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im ewigen Schöpfungsprozess hervorgehen. Sie ist Quelle allen Seins und verbindet die Welt der Lebenden mit der der Ahnen.

Für viele Afrikaner ist Schlangestehen keine Zeitverschwendung, sondern eine sinnvolle Beschäftigung. Ihr Lebenstempo ist gemächlicher, man nimmt sich mehr Zeit für spontane Gespräche. In Burundi etwa kommt man ohne Uhren aus, weil sich die Menschen am Rhythmus der Natur orientieren. Levine zufolge geht es auch in Brasilien betont langsam zu. Brasilianer hätten „jeden Anspruch auf Orientierung an der Uhr aufgegeben“. Es sei unhöflich, pünktlich zu Terminen und Treffen zu kommen.

Rechter Augenblick wichtiger als Pünktlichkeit

Die südamerikanischen Quetschua- und Aymara-Indianer kennen für Zeit nur das Wort „pacha“. Ungeduld und Stress sind ihnen unbekannt, sie lassen sich nicht so schnell aus der Balance bringen.

Auch die indische Sprache hat für Zeit ein universales Wort: „kal“. Hindus kann die Zeit nicht wie Deutschen davonlaufen, weil sich für sie alles Dasein im Kreislauf der Wiedergeburt wiederholt. Bei Terminen sollte man Zeit für spontane Änderungen mitbringen. Für Hindus ist der rechte Augenblick wichtiger als Pünktlichkeit. Was zählt, ist das Hier und Jetzt.