Oft erreichen uns Trends aus den USA mit Verspätung ebenfalls. Insofern sollten wir genau hinschauen, was uns die Präsidentschaftswahl in den USA zu sagen hat.

Berlin - In vielen Dingen sind uns die Vereinigten Staaten zeitlich einige Schritte voraus. Moden, Wellen und Prozesse in den USA erreichen in der Regel bald danach auch Europa. Oft gilt das auch für gesellschaftliche Entwicklungen und Trends. Deshalb tun wir gut daran, ganz genau hinzuschauen, was sich gerade jenseits des großen Teiches abspielt, und Konsequenzen daraus zu ziehen. Was also sind die zehn wichtigsten Lehren aus dem amerikanischen Wahlkrimi, der nach tagelangem Auszählen zum Sieg Joe Bidens geführt hat?

 

Jede Stimme zählt

Gerade weil der Amtsinhaber den Auszählungsprozess in Frage gestellt hat, ist eines überdeutlich geworden: In der Demokratie zählt jede einzelne Stimme – übrigens egal, in welcher Form sie abgegeben wurde. Das ist doch eine sehr gute Nachricht. Persönliches Engagement kann den Unterschied machen. Das sollte eine Motivation sein, sich aktiv einzumischen.

Lesen Sie hier: Wer ist die Familie Biden?

Mehrparteiensysteme sind ausgleichender

Es stimmt, dass Zwei-Parteiensysteme wie in den USA klare Alternativen herausbilden und damit den politischen Prozess überschaubarer machen. In den USA, aber auch in Großbritannien mit seinem Mehrheitswahlrecht sehen wir aber auch, dass eine solche brüske Zweiteilung der politischen Welt Gräben aufreißt. Unser System mit mehr Parteien, die sich in der Regel zu Koalitionen zusammenfinden müssen, ist manchmal mühsamer, weil die Kompromissbildung kompliziert sein kann. Aber der erreichte Kompromiss hat eben auch gesellschaftlich ausgleichende Wirkung.

Lesen Sie außerdem: Joe Biden im Porträt – Menschenfreund ohne Allüren

Auf die Sprache achten

Die Entwicklung in den USA ist eine Mahnung, den politischen Gegner mit Wertschätzung zu behandeln und ihn nicht zu dämonisieren. Unterschiede werden zu unüberbrückbaren Gräben, wenn die politische Konkurrenz abgewertet oder sogar kriminalisiert wird. Und das fängt bei der Sprache und der Wortwahl an.

Die Wichtigkeit der Presse

Gerade wenn Politiker mit Verdächtigungen, dem Streuen von Gerüchten, Verschwörungstheorien und offenkundigen Lügen arbeiten, braucht es eine Instanz, die Fakten von Fiktion trennt. Nie war eine freie und unabhängige Presse wichtiger als heute. Wer ihre Stellung untergräbt, schadet der Demokratie.

Rassismus spaltet

Große und wirtschaftlich starke westliche Gesellschaften werden immer diverser. Egal ob links, liberal oder konservativ – Politiker müssen diesen Prozess begleiten und gestalten. Gelungene Integrationspolitik ist ein Schlüssel für eine friedliche und plurale Gesellschaft. Ausgrenzung und ungleiche Chancenverteilung sind dagegen Dynamit.

Die Linke muss sich hinterfragen

Der parlamentarische Geschäftsführer der Linkspartei im Bundestag, Jan Korte, hat die kluge Frage gestellt, warum es den US-Demokraten nicht gelingt, in klassischen US-Arbeitermilieus breite Unterstützung zu generieren. Eine mögliche Antwort ist auch für Deutschland wichtig: Links sein hieß traditionell, Verteilungsgerechtigkeit und soziale Fragen in den Vordergrund zu stellen.

Jüngere Linke definieren ihr Linkssein heute anders. Schaut man sich die treibenden neuen Kräfte der Progressiven bei den US-Demokraten an, etwa die kluge Alexandria Ocasio-Cortez, geht es ihnen oft mehr um Fragen von Gender, Diversität und Klimaschutz. Weder Sprache noch Themensetzung kommen bei den klassischen Arbeitermilieus wirklich an. Auch deutsche Sozialdemokraten könnten hier durchaus Erklärungen für ihren Niedergang finden.

Stadt und Land spalten sich

Die ländlichen Regionen wählen Trump. Die großen Metropolen, das quicke New York und das hippe Kalifornien wählen die Demokraten. Das verbindet sich mit einem Bildungsgefälle. Die gut ausgebildeten Akademiker können mit der groben Trump-Rhetorik nichts anfangen. Die Provinz tickt anders. Diese gewaltige Kluft markiert eine innergesellschaftliche Entfremdung, die Gift für jedes Gemeinwesen ist.

Es ist keineswegs so, dass diese Trennung in Deutschland nicht auch in Ansätzen erkennbar wäre. Es ist auffallend, wie schwer sich etwa die CDU in den Großstädten tut. Politikangebote zu machen, die nicht nur auf die Bedürfnisse städtischer Eliten setzen, sondern das Ganze im Blick haben – das ist eine wichtige Lehre aus dem amerikanischen Desaster.

Lesen Sie außerdem: Kamala Harris – die „furchtlose Kämpferin“

Trump hat nicht alles falsch gemacht

Donald Trump hat nach seinen vier krawalligen Jahren im White House mehr Stimmen gewonnen als 2016. Mehr Frauen haben ihn gewählt, mehr Schwarze, mehr Amerikaner mit südamerikanischen Wurzeln. Das Bild eines völlig abgedrehten Politikers, der an den Wünschen und Bedürfnissen seines Volkes glatt vorbeiregiert, ist ganz offensichtlich total falsch. Offensichtlich spricht er ein verbreitetes Gefühl vieler Amerikaner an, von „denen in Washington“ übergangen zu werden. Das ist auch eine ernste Warnung an Demokratien außerhalb Amerikas.

Die Wichtigkeit einer unabhängigen Justiz

Die erbitterte Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit der späten Auszählung von Briefwahlstimmen könnte am Ende vom obersten US-Gericht, dem Supreme Court, entschieden werden. Die Besetzung dieses Gerichtes ist ein Hauptkampfplatz amerikanischer Innenpolitik. Das setzt die obersten Richter dem Verdacht aus, nicht parteipolitisch unabhängig zu sein. Das ist eine sehr ernste Mahnung an unser Land, die Integrität des Bundesverfassungsgerichtes nie in Frage zu stellen und in den Parteienstreit hineinzuziehen. Zum Glück ist das auch nicht der Fall.

Kleiner Schritt vom Populismus zur Gewalt

Zur Trump-Strategie gehörte es immer, die Integrität des gesamten Systems in Frage zu stellen. Immer wieder spricht er generalisierend vom „rigged system“, dem manipulierten System. In den Wahlkämpfen erscholl immer wieder der Ruf, politische Gegner einzusperren. Der Ton wird nun immer ungeheuerlicher. Nun hat der Ex-Präsidentenberater Steve Bannon tatsächlich davon gesprochen, dass FBI-Direktor Christopher Wray und Dr. Anthony Fauci als Verräter enthauptet oder gehängt werden sollten.