Die Stuttgarter Justiz hat ein aufreibendes Jahr hinter sich. Vor den Gerichten spielten die Pandemiemaßnahmen und die extremen Reaktionen darauf eine große Rolle.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Wenn es denn bei der Stuttgarter Justiz die Wahl zum Mitarbeiter des Jahres geben würde, dann hätte der Pförtner am Verwaltungsgericht an der Augustenstraße sehr gute Chancen, diese zu gewinnen. Mit welcher freundlichen und zuvorkommenden Art dieser ältere Herr seinen Dienst versieht, sucht seinesgleichen. Das geht so weit, dass ortsunkundige Besucher von ihm persönlich zum Gerichtssaal geführt und auch noch den besten Platz zugewiesen bekommen. Mit diesem weit über das Normalmaß gehende Engagement steht dieser Mann am Empfang aber gleichzeitig auch stellvertretend für viele Beschäftigte an den Stuttgarter Gerichten.

 

Das Jahr 2021 hat die Stuttgarter Justiz wie keine andere in Deutschland am Anschlag arbeiten lassen und sie an Belastungsgrenzen geführt. Es kam in der Landeshauptstadt ja auch viel zusammen. Neben der enorm aufwendigen juristischen Aufarbeitung der Krawallnacht vom Juni 2020 trug der Dieselskandal in der Autostadt einer noch nie dagewesenen Mehrarbeit bei. Allein im April gingen 1200 entsprechende Klagen ein, so viele wie nie zuvor in einem Monat. Dazu kamen sehr viele Prozesse mit einem Coronabezug. Eine steigende Tendenz gab es auch bei Verfahren, denen politisch motivierte Straftaten zugrunde lagen. Wie sich diese beiden Bereiche miteinander verzahnen und dabei extremste Sichtweisen und eine enorme Gewaltbereitschaft offenbaren, wurde bei einem der Aufsehen erregendsten Stuttgarter Verfahren des Jahres 2021 deutlich.

Der Gerichtssaal soll politische Bühne werden

Von April an verhandelte die 3. Strafkammer des Landgerichts unter enormen Sicherheitsvorkehrungen im Stammheimer Justizgebäude gegen zwei Angeklagte aus der linksautonomen Antifa-Szene. Ihnen wurde zur Last gelegt, im Mai 2020 drei Vertreter der rechtsextremem Arbeitnehmervertretung Zentrum Automobil aus einer Gruppe vermummter Personen heraus angegriffen und brutal zusammengeschlagen zu haben. Die Opfer waren auf dem Weg zu einer „Querdenken“-Demonstration gegen die staatlichen Coronamaßnahmen auf dem Wasen. Einer der angegriffenen Personen wurde ins Koma geprügelt und lebensgefährlich verletzt.

Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: Ein wichtiges Urteil – Brutale Gewalt kann nie legitim sein

Im Verfahren versuchte der ebenfalls der extremen rechten Szene zugeordnete Anwalt des am schwersten verletzten Opfers, den Gerichtssaal zur politischen Bühne umzufunktionieren. Was die Kammer im Rahmen der juristischen Möglichkeiten immer wieder unterband. Nach 21. Verhandlungstagen stand im Oktober ein ganz und gar unpolitischer Schuldspruch, der für die Täter Haftstrafen von viereinhalb und fünfeinhalb Jahren bedeutete.

Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: Stuttgarter Extremsituationen – Justiz am Anschlag

Es sind viele weitere gut begründete Urteile, die das Stuttgarter Gerichtsjahr 2021 geprägt haben. In Erinnerung bleiben aber auch fassungslos machende Taten ebenso wie dramatische Prozesswendungen.

Da wäre der Fall eines Mannes, dem schwerer sexueller Missbrauch von Kindern sowie Vergewaltigungen von Familienangehörigen vorgeworfen wurde. Zum dritten Verhandlungstag erschien der Angeklagte nicht mehr. Er hatte sich in seiner Zelle das Leben genommen.

Sechs Monate unschuldig in U-Haft

Einen nicht vorhersehbaren Verlauf nahm auch ein weiteres Sexualstrafverfahren. Die Staatsanwaltschaft hatte einem Mann zur Last gelegt, eine ebenfalls aus dem Iran stammende Frau auf ganz besonders demütigenden Weise in seiner Wohnung vergewaltigt zu haben. Die Behörde stützte sich dabei auf die Aussagen der 27-Jährigen gegenüber der Polizei. Der Angeklagte wiederum gab an, dass es sich um einvernehmlichen Sex nach einer Wohnungsbesichtigung in Bad Cannstatt ohne jegliche Gewaltanwendung gehandelt habe.

Es waren widerlegbare Aussagen des angeblichen Opfers, die massive Zweifel an den Vorwürfen aufkommen ließen. Noch größere Bedeutung wurde aber dem gynäkologischen Befund des Klinikums Stuttgart vom 19. Mai beigemessen. Es gebe keinen Hinweis auf Verletzungen, hieß es darin. Was im krassen Widerspruch zu den Schilderungen der Frau stand. Deren Aussage führte dazu, dass der Mann sechs Monate offenbar unschuldig in Untersuchungshaft gesessen hatte. Die Frau soll weiter zurückliegende traumatische Erlebnisse in Verbindung mit dem aktuellen Geschehen gebracht haben.

Gerade dieser Fall zeigt auf ganz eindrückliche Weise, dass gerade hinter Strafverfahren immer auch Schicksale stehen. Daran wird sich auch im Gerichtsjahr 2022 nichts ändern.