Wie sehen eigentlich „normale“ Vulven aus? Total unterschiedlich - das macht ein Abreißkalender mit 365 intimen Nahaufnahmen klar. Die Herausgeberinnen wollen Frauen mit ihrem Projekt Selbstbewusstsein geben - und mit Mythen über die Vulva aufräumen.

Freiburg - Die Vulva des 12. Februars ist glatt rasiert und von rosiger Farbe, die vom 2. Juli ist dunkler und behaart und die vom 2. Oktober ziert ein Piercing: Wer diesen in Freiburg konzipierten Abreißkalender durchblättert, kommt dem weiblichen Geschlecht sehr nahe. Auf etwa Din-A-5-großen Blättern sind hier 365 Vulven abgebildet, für jeden Tag eine, in Nahaufnahme und ohne Filter. „Mal so richtig hinschauen“ - das ist das Motto des Kalenders mit dem Namen „Vulvaversity“.

 

„Diese Bilder gibt es in einer unpornographischen Weise nicht, nicht mal in Anatomiebüchern“, sagt Indra Küster. Die 30 Jahre alte Künstlerin und Kulturwissenschaftlerin hat den Kalender für das Jahr 2021 gemeinsam mit fünf anderen Leuten herausgebracht und in einer Auflage von 750 Stück übers Internet verkauft. „Wir halten uns für eine aufgeklärte Gesellschaft und wissen fast nichts über die Vulva.“

Viele sagen Vagina, wenn sie eigentlich die Vulva meinen

Man nehme zum Beispiel die Klitoris: Viele stellten sie sich als kleinen Punkt vor, sagt Gwen Weisser, Mitgründerin des „Vulvaversity“-Kollektivs. In Wahrheit jedoch ist sie ein eigenständiges Organ, das zum großen Teil innen liegt. Entlarvend ist auch die sprachliche Verwirrung über den Intimbereich der Frau: Viele sagen Vagina, wenn sie eigentlich die Vulva, also die äußeren Geschlechtsteile, meinen.

Und nicht zuletzt ist da eine Normvorstellung, die hauptsächlich von Pornos geprägt ist. „Ohne Haare, kaum sichtbare innere Vulvalippen, nie blutend, ohne Schleim, nicht nach der Geburt und mit einer Hautfarbe wie am Rest des Körpers“ - so würden Vulven in Pornos meist gezeigt, sagt Weisser.

Chirurgische Eingriffe im Intimbereich nimmt zu

Offenbar wollen immer mehr Frauen zwischen den Beinen dieser angeblichen Norm entsprechen. Das lassen zumindest Zahlen zu chirurgischen Eingriffen im Intimbereich vermuten. Die internationale Gesellschaft für plastische Chirurgie schreibt in einer Studie, dass die Zahl der Operationen an den Schamlippen zwischen 2014 und 2018 weltweit um ein Viertel gestiegen ist. Auf den Webseiten von deutschen Anbietern für solche Operationen werden größere innere Schamlippen etwa als „überschüssiges Gewebe“ bezeichnet.

„Viele, die sich operieren lassen wollen, wissen gar nicht, dass sie vollkommen normal und okay aussehen“, sagt Indra Küster. Ihnen könnte ein Blick in den Kalender ein realistischeres Bild vermitteln.

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So vielfältig wie die abgebildeten Geschlechtsteile seien auch die Gefühle bei den Fotoshootings gewesen, erzählt Gwen Weisser. Manche „Menschen mit Vulva“ - so nennt das Kollektiv die Teilnehmerinnen - hätten sich vorher waschen wollen, manche explizit nicht. Es gab Personen, denen regelrecht die Knie zitterten. Bei einigen kamen Erinnerungen an sexuelle Gewalt wieder hoch, einige fragten sich, ob das Shooting sie erregen würde.

Erste Auflage bereits vergriffen

Über 400 Vulven habe man an mehreren Terminen abgelichtet. Die Teilnehmerinnen hätten sich vor allem über soziale Netzwerke gefunden. Das Geld für das Projekt stammte zum Teil aus einem Crowdfunding-Aufruf im Internet. Jetzt ist die erste Auflage bereits vergriffen. Eine für 2022 ist in Planung. Das Projekt solle aber nicht nur verdeutlichen, wie unterschiedlich Vulven aussehen können, sagt Weisser. „Die Vulva steht als Symbol für ganz viele Themen: die Stigmatisierung der Frau, das Patriarchat, die Sexualität, Schönheitsideale.“

Doch woher kommen eigentlich die Wissenslücken über die Vulva und deren offenbar so schwerer Stand in der Gesellschaft? Mithu Sanyal, Kulturwissenschaftlerin und Autorin des Buches „Vulva: Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“, sieht das Problem in den monotheistischen Religionen begründet. In Judentum, Christentum und Islam habe ein männlicher Gott die Welt allein mit der Kraft des Wortes geschaffen. „Der brauchte keine Göttin mehr, die die Welt geboren hat“, sagt sie.

„Es gibt leider eine politische Notwendigkeit für Projekte wie den Kalender“

Die Vulva habe eine Art Konkurrenz für die Schöpfungskraft des männlich imaginierten Gottes dargestellt. Also sei sie dämonisiert worden - mit Folgen bis in die heutige Zeit. „Es gibt leider eine politische Notwendigkeit für Projekte wie den Kalender“, sagt Sanyal. Die Vulva spiele etwa in der Ausbildung von Gynäkologen nahezu keine Rolle. Kinder lernten mit Schulbüchern, die Vulva und Vagina falsch darstellten. Die wahre Größe der Klitoris sei immer noch wenig bekannt. Und die Tatsache, dass Vulva und Vagina weithin als „passive“ Geschlechtsorgane angesehen würden, wirke sich auf die Geschlechterrolle aus, die Frauen zugesprochen werde.

Die „Vulvaversity“-Macherinnen hoffen, dass ihr Kalender die Vulva ein bisschen aus der Skandal-Ecke herausholt. „Wie kann es sein, dass wir jetzt noch Angst vor diesen Fotos haben?“, fragt Indra Küster. „Das wollen wir aufbrechen.“ Das Tabu um die Vulva sieht sie als einen Knotenpunkt. „Wenn wir den auflösen, kann sich ganz viel bewegen.“