Johann Österreicher hat Alzheimer. Wie er kommen immer mehr Männer mit Demenz in Seniorenheime. Basteln und häkeln wollen sie nicht, daher kümmern sie sich in der Männergruppe um handwerkliche Tätigkeiten und werden so gebraucht.

Weil der Stadt/Grafenau - Breitbeinig, im blauen Arbeitshemd, mit Jogginghose und schwarzen Schlappen steht Johann Österreicher vor einer Holzbank im Innenhof des Seniorenzentrums Grafenau. Mit kräftigen Zügen schmirgelt er die alte Farbe ab. Ganz sicher ist der 83-Jährige nicht mehr auf den Beinen, ab und zu hält er kurz inne, stützt sich an der Armlehne ab.

 

Johann Österreicher ist ein Schaffer. Sein ganzes Leben lang hat er handwerklich gearbeitet. Auch hier lässt sich der Weil der Städter weder von körperlichen Gebrechen noch von seiner Demenzerkrankung davon abhalten. Zusammen mit anderen alten Männern streicht er Bänke und arbeitet im Garten. Das ist Teil des Konzepts: Alle Menschen brauchen eine sinnvolle Aufgabe, für die sie geschätzt werden. Viele Männer können mit Basteleien nichts anfangen. Deswegen gibt es die Männergruppe.

In Grafenau ist Johann Österreicher die treibende Kraft. „Das sind meine Gehilfen“, sagt er und blickt auf seine beiden Mitstreiter. Einer sitzt im Rollstuhl, der andere hat sich im Gartenstuhl direkt hinter der Bank niedergelassen. Die Betreuerin Johanna Renz drückt ihnen Pinsel in die Hand und schiebt sie so heran, dass sie im Sitzen streichen können. Der Mann im Rollstuhl spricht kaum. „Mit ihm muss man viel ausprobieren und ein Gefühl dafür entwickeln, was er tun kann“, sagt sie.

Das handwerkliche Arbeiten bewahrt die Persönlichkeit

Bei Johann Österreicher ist das einfacher. Er schnappt sich von allein den Farbeimer mit der braunen Lasur, einen Pinsel und streicht die Bank. Nach kurzer Zeit sind Gesicht und Brille mit feinen Punkten übersät, die Fingerspitzen sind schwarz vor Farbe. Noch ein kritischer Blick, dann setzt sich der 83-Jährige auf einen Stuhl und betrachtet sein Werk.

„Sind Sie fertig, Herr Österreicher?“, fragt Johanna Renz. „Fertig mit den Nerven“, antwortet er und wäscht sich mit Wasser die Farbe von den Fingern. Ganz zufrieden ist der alte Herr nicht – die Lasur lässt sich zu leicht von der Haut entfernen. „Wenn der nächste Regen kommt, ist das alles wieder weg. Wenn das Ölfarbe wäre, dann bräuchte man Verdünnung, um das weg zu bekommen“, sagt er und zeigt auf seine jetzt sauberen Finger.

Die Betreuerin hakt nach. „Sind Sie zufrieden mit ihrer Arbeit, Herr Österreicher?“, fragt sie. „Zufrieden?“, antwortet der 83-Jährige, als kenne er keine Zufriedenheit. Doch das Streichen scheint ihm Freude zu machen. Er genießt es, dass sein fachlicher Rat und seine Tatkraft gefragt sind. „Die Bank ist zum zweiten Mal gestrichen. Wenn das trocken ist, sieht es schön aus“, sagt der Weil der Städter und klingt dann doch zufrieden. Stolz erzählt er von früher, als er oft auf dem Bau gearbeitet habe. „Ich war halt Mädchen für alles. Jetzt mache ich das, was anfällt. Wenn sie mich brauchen, sollen sie mich holen“, sagt’s und zeigt auf die anderen.

Früher war er Mädchen für alles, heute auch noch

Gebraucht werden und so viel selbst machen wie möglich, das ist das Ziel. „Pflege heißt nicht mehr, die Alten rundum zu versorgen, ihnen alle Tätigkeiten abzunehmen“, erklärt Ingrid Müller, die Regionalleiterin der Wilhelm-von-Keppler-Stiftung, die das Heim betreibt. Pflege bedeutet heute, im Alltag zu helfen. Oder zumindest, sie daran teilhaben zu lassen: „Das fängt damit an, dass das Essen im Wohnbereich vorbereitet wird.“

In Grafenau können die Bewohner das Heim stets verlassen, können spazieren oder einkaufen gehen. „Es werden die Risiken mit den Angehörigen besprochen, und mit den Bewohnern Laufwege ausprobiert und geübt“, sagt Andrea Barbara Sprentzel, die Hausleiterin. Viele können so weiter am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. „Leben bedeutet immer ein Risiko“, sagen die beiden Leiterinnen. Wäre die Alternative eines Menschen würdig? Sicher leben unter Bewachung?

Viel hat sich geändert in der Demenzpflege. Das beginnt mit der Wortwahl: „Die Mitarbeiter sprechen nicht von Dementen oder Demenzkranken. Sie sprechen von Menschen mit Demenz“, erklären Müller und Sprentzel. Der Mensch ist noch da, soll das verdeutlichen. Die Krankheit habe die Persönlichkeit nicht verschwinden lassen: „Er verhält sich lediglich anders als früher.“

So ließen beispielsweise die Fähigkeit zu reflektieren und andere kognitive Leistungen nach, Gefühle würden wichtiger. Manche sagten sogar, der Mensch werde durch die Krankheit ein Stück mehr er selbst, da soziale Normen und die Erziehung an Bedeutung verlieren. „Man muss versuchen, sich immer wieder neu auf die Person einzulassen“, sagt die Hausleiterin Andrea Barbara Sprentzel. Neben Akzeptanz spiele Anerkennung eine große Rolle: „Es ist wichtig für die Bewohner, dass sie eine sinnvolle Beschäftigung haben, die ihnen das Gefühl gibt, gebraucht zu werden“, erzählt Andrea Barbara Sprentzel.

Basteln und Häkeln ist nichts für ihn

In der Demenzwohngruppe hat sich eine alte Dame vor ihrem Lieblingsplatz auf dem Sofa eine Art Büro eingerichtet. Auf einem kleinen Tisch stapeln sich Bücher, Papiere und verschiedene Stifte. Dort sitzt die 84-Jährige fast immer, hält einen Kugelschreiber in der Hand, blättert ab und an in den Büchern. Für die betagte Frau ist es eine gewohnte Umgebung, ein Stück Erinnerung, ein Bisschen Heimat. Viele Jahre hat sie in einem Büro gearbeitet. „Die Bewohnerin war am Anfang sehr unruhig. Jetzt hat sie ihren Platz gefunden“, erzählt die Hausleiterin.

Auch für Johann Österreicher war der Umzug in ein Heim eine Umstellung. „Mädchen haben mit Puppen gespielt, Jungs haben selbst etwas gebastelt“, stellte er gleich zu Beginn im Fragebogen klar, den alle neuen Bewohner ausfüllen dürfen. Er glaube an nichts, sei kein Freund von Urlaub und wenn man tot sei, dann sei man eben tot, steht dort geschrieben. Dennoch sind ihm Trauerandachten enorm wichtig geworden, regelmäßig geht er zum Gottesdienst. Auch im Bewohnerrat sitzt der alte Mann. „Da ist er sehr stolz drauf“, sagt seine Schwägerin, Luisa Österreicher. Doch zeigen würde er das wahrscheinlich nicht.

„Johann hat sich hier positiv entwickelt. Es gefällt ihm hier und er ist nicht mehr so alleine“, erzählt sie. Sein Leben lang sei er ein Einzelgänger gewesen, ein ewiger Junggeselle. Doch das Verhältnis zu seiner Familie, zu seinen Brüdern, war stets eng und herzlich. „Sie waren immer gut miteinander“, sagt die 77-Jährige.

Ursprünglich kommt die Familie Österreicher aus Holleschitz in Südmähren. Fünf Brüder waren es, doch einer starb wenige Jahre nach der Geburt, der andere fiel im Krieg. Zusammen mit den Eltern wurden die drei nach 1945 aus ihrer Heimat vertrieben und landeten in einem Lager in Malmsheim. Johann Österreicher war Hilfsarbeiter, arbeitete auf dem Bau, schnitt Bleche zu, fertigte Gießkannen.

Johann Österreicher ist geselliger geworden

Der alte Mann spricht gerne über sein Leben und seine Familie. Manches bringt er durcheinander, an anderes erinnert er sich lebhaft und genau: „Einen Haufen Geld“, habe er bei einem Unternehmen in Malmsheim verdient. Fast so viel wie ein „Gelernter“, betont Österreicher stolz. Bald bauten die Brüder in Weil der Stadt ein Haus, – und arbeiteten dort jeden Tag, nach der Arbeit, bis es dunkel wurde. „Was machen denn die Buben da?“, hätten sich die Nachbarn gewundert, erinnert sich Johann Österreicher schmunzelnd.

In seinem Zimmer hängen Bilder des Hauses, daneben ein Foto vom Grab des jüngeren Bruders Walter, der wie er Junggeselle blieb. Jahrelang lebten beide zusammen, bis Walter altersbedingt in ein Heim musste und schließlich verstarb. Johann blieb in der Wohnung, lebte alleine. Doch irgendwann ging es nicht mehr. Früher sei Johann Österreicher regelmäßig viele Kilometer spazieren gegangen. Als er das nicht mehr konnte, habe er selbst entschieden, in ein Seniorenheim zu ziehen, erinnert sich Luisa Österreicher.

Ein Junggeselle ist der 83-Jährige auch dort geblieben. Auch wenn er geselliger geworden ist. Einmal hat ihm eine Mitbewohnerin gesagt, er sei „ein Mann zum Heiraten“ Johann Österreicher fragte die Pfleger verschmitzt: „Muss ich jetzt Angst haben?“ Er braucht seine Ruhe. Wird ihm die Gesellschaft der anderen zu viel, dann schaltet er einfach sein Hörgerät ab.