Der Weitspringer Markus Rehm verzichtet nach seiner Nicht­nominierung auf rechtliche Schritte, ­fordert aber weitere Tests. Jenseits der allgemeinen gesellschaftspolitischen Frage der Inklusion im Spitzensport liegt die Causa Rehm im besonderen weiter in den Händen der Biomechaniker.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Der Tag danach hat für Markus Rehm früh begonnen. Vom Bundesleistungszentrum in Kienbaum bei Berlin war er in die Hauptstadt in ein Fernsehstudio gefahren. Um kurz vor acht Uhr stand der unterschenkelamputierte Weitspringer dort dem Morgenmagazin Rede und Antwort. Es war der Anfang eines weiteren Tages voller Fragen und Antworten. Er habe „Respekt“ für die anderen Sportler, sagt der 25-Jährige. Er wolle nicht weiter für Verwirrung sorgen und „fair bleiben“ und keine juristischen Schritte wegen der Nichtnominierung für die EM einleiten. „Aber ich werde alle Möglichkeiten nutzen, um nachzuweisen, dass ich mir keinen Vorteil verschafft habe.“

 

Markus Rehm ist nicht entschlüsselt. So sehen das die Kritiker der Entscheidung des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Einige Experten, darunter der Biomechaniker Gert-Peter Brüggemann, bemängeln, dass es deutlich umfangreicherer Analysen bedürfe, um tatsächlich aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen.

Markus Rehm sieht das genauso und sagt, die Untersuchungen seien zwar „sehr gut gemacht, aber nur zur Hälfte“. So werde sein möglicher Nachteil durch eine geringere Anlaufgeschwindigkeit nicht berücksichtigt. „Wir wollen weitere Schritte einleiten, wir wollen weitere Untersuchungen“, sagt er. Darauf hat sich auch der DLV mit dem Deutschen Behindertensportverband verständigt. Anfang September soll es eine Sitzung einer Arbeitsgruppe zu dem Thema geben.

Rehm sagt: „Wenn mir nachgewiesen wird, dass ich durch die Prothese einen Vorteil hatte, lasse ich alle Weiten aus der Liste streichen und gebe den Titel zurück.“

Jenseits der allgemeinen gesellschaftspolitischen Frage der Inklusion im Spitzensport liegt die Causa Rehm im besonderen weiter in den Händen der Biomechaniker. Es geht nun auch um die Deutungshoheit von Werten. Inwieweit zum Beispiel alle Parameter berücksichtigt sind, beziehungsweise, ob überhaupt alle Leistungsbedingungen berücksichtigt werden müssen. Die Frage bei der Beurteilung der Vergleichbarkeit ist: muss der nachgewiesene Vorteil beim Absprung durch andere Nachteile wie den langsameren Anlauf bedingt durch die Prothese ausgeglichen werden? Also gibt es eine Art Nettowert? Im Fall des beidseitig unterschenkelamputierten Sprinters Oscar Pistorius war es so: Der durfte nach einem Urteil des Internationalen Sportgerichtshofs, das Vor- und Nachteile einbezog, bei den Nichtbehinderten starten. Das war ihm zuvor nach einem ersten Gutachten noch untersagt worden.

Der gebürtige Göppinger Rehm, der für den TSV Bayer 04 Leverkusen startet, war für die Datensammler des DLV bis Samstag ein unbeschriebenes weißes Blatt Papier. Sie wussten nicht, wie er genau springt, welche Kräfte wirken, wie er also funktioniert. Erst bei den Meisterschaften in Ulm wurde die „Black Box“ des Ausnahmeathleten (leider viel zu spät) mit Inhalten gefüllt. Die Untersuchung des Systems Rehm und der geführte Vergleich mit insgesamt 32 anderen Springern nährte dann eben die Zweifel an der Vergleichbarkeit.

Oder muss der Fall Rehm ganz anders betrachtet werden, nicht vergleichend, weil ein Springer mit einer Prothese zwangsläufig einen anderen Weg zum Ziel, also zu möglichst weiten Sprüngen, suchen muss? Weil er zwangsläufig anders zu seiner Leistung kommt? Aber lässt sich das dann fair entschlüsseln? Ist das dann noch Weitsprung? „War seine Siegleistung von 8,24 Meter das Ergebnis einer ganz anderen schwierigen Disziplin, die man vielleicht Tempo-Trampolinspringen nennen könnte oder Katapult-Leichtathletik?“, schreibt dazu die „Süddeutsche Zeitung“. Fragen über Fragen. Nach den richtigen Antworten wird weiter gesucht. „Wir laufen und springen in die Sandgrube. Das bleibt für mich Weitsprung“, sagt Rehm.

Biomechanisch gesehen ist es leider komplizierter. Die Leistungsdiagnostiker kamen auf Werte, die sie bei ähnlich weiten Sprüngen von Nichtbehinderten noch nie gesehen hatten. Im Vergleich zu Christian Reif, der in Ulm 8,20 Meter sprang, war Rehm (8,24 Meter) kurz vor dem Absprung deutlich langsamer (9,72 Meter pro Sekunde zu 10,74 Meter pro Sekunde), die Absprunggeschwindigkeit war aber viel höher (3,65 Meter pro Sekunde zu 2,98). In der Welt der Leistungsdaten ergibt das einen „Bilanzkoeffizienten“ von 2,5 (Reif: 0,43). „So eine Zahl haben wir noch nie gesehen“, sagt der DLV-Cheftrainer Idriss Gonschinska. Der Durchschnitt liege bei 0,5.

Wichtig ist Rehm eines: „Es darf nicht in den Köpfen bleiben, dass ich nur wegen der Beinprothese gewonnen habe. Das wäre ein extrem falsches Bild.“ Der Mensch Markus Rehm hat gewonnen.