Eine Studie an den Universitätskinderkliniken im Südwesten zeigt: Kinder sind keine Treiber der Pandemie. Die Fachleute sagen, es sei die weltweit größte Untersuchung zu diesem Thema.

Stuttgart - Es ist, wie Klaus-Michael Debatin erklärt, „die wohl weltweit größte Studie zur Frage, ob Kinder die Virentreiber der Pandemie sind“. Debatin ist Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Uniklinikum Ulm – und war als solcher an der Studie beteiligt. Die Frage, ob Kinder Treiber der Infektion sind, ist durchaus berechtigt: Schließlich zeigt sich der Umstand jeden Herbst, wenn die Grippe grassiert, und die Kita- und Schulgänger rotznasig die Influenzaviren in die Familien tragen. Beim Coronavirus, so sind sich die Studienleiter einig, ist dies nicht der Fall. „Kinder sind deutlich weniger infiziert als etwa ihre Eltern“, sagt Debatin.

 

Der Aufwand für diese Studie war enorm: Insgesamt wurden an den Unikliniken Tübingen, Ulm, Heidelberg und Freiburg Ende April 4932 Kinder im Alter von ein bis zehn Jahren und je ein dazugehöriger Elternteil auf das neuartige Coronavirus und auf Antikörper getestet. Die Wissenschaftler riefen für diese Studie explizit Freiwillige auf, bei denen zuvor nicht klar war, ob sie sich bereits infiziert hatten. Sie sollten augenscheinlich gesund sein. Ganz besonders Wert legten sie dabei auf Kinder, die Ende April in Notbetreuungen Kontakt zu anderen Gleichaltrigen hatten. Tatsächlich wiesen von den knapp 5000 Teilnehmern nur rund 1,3 Prozent Antikörper gegen das Virus auf, bei einer einzigen Eltern-Kind-Konstellation war auch eine akute Erkrankung dabei.

Keine Herdenimmunität

„Wir haben nicht erwartet, dass wir eine hohe Zahl an unerkannten akuten Infektionen aufdecken“, sagt Axel Franz, Leiter der Studienzentrale für Kinderstudien am Universitätsklinikum Tübingen gegenüber unserer Zeitung. Schließlich fand die Studie Ende April statt, da war der Lockdown im vollen Gange, Kitas und Schulen waren bereits geschlossen, viele Eltern arbeiteten im Homeoffice. Interessant ist vielmehr, dass sich über die Antikörpertests herausgestellt hat, dass nur so wenige Teilnehmer überhaupt Kontakt mit dem Erreger hatten – nämlich 64 Personen: 45 Elternteile und 19 Kinder.

Angesichts dessen, dass Baden-Württemberg zu Beginn der Pandemie als einer der bundesweiten Corona-Hotspots gegolten hat, ist das nicht nur für die Tübinger Studienleiter bemerkenswert: „Es zeigt, dass wir von einer Herdenimmunität noch sehr weit entfernt sind“, sagt der Ulmer Kinderarzt Klaus-Michael Debatin. Es sei im Südwesten wahrscheinlicher, von einem Auto angefahren zu werden, als mit einem Coronavirus-Infizierten in Kontakt zu kommen. Selbst das Risiko, dass sich an Orten, wo viele Kinder aufeinandertreffen, Corona-Hot-Spots entwickeln, war zumindest im Studienzeitraum gering: Von den insgesamt untersuchten 2466 Kindern waren rund 20 Prozent in der Notbetreuung, also 593 Kinder. Bei diesen fiel der Antikörpertest nur bei dreien positiv aus.

Unbekannte Infektionsketten

„Die Notbetreuung hat also sicher nicht zur Ausbreitung der Infektion beigetragen“, sagt Axel Franz. Selbst innerhalb der Familie scheint die Infektionsgefahr nicht so groß zu sein: „Es steckt sich nicht jeder automatisch mit jedem an“, sagt Corinna Engel, die an der Studie in Tübingen mitgearbeitet hat. Gleichzeitig könne man aber auch nicht sagen, wer das Virus letztlich in die Familie getragen habe – die Eltern oder die Kinder. „Das gibt das Studienmodell nicht her“, sagt Engel. Um herauszufinden, wie sich Infektionsketten abgespielt haben, bräuchte es weitere Untersuchungen.

Wichtig für die Politik ist jedoch die Aussage der Wissenschaftler, dass Kinder beim weiteren Verlauf der Pandemie keine große Rolle spielen – aber, das betont Experte Debatin: Es bedeute nicht, dass Kinder sich nicht grundsätzlich mit dem Virus infizieren oder es weitergeben könnten. „Sie werden nur deutlich weniger krank und haben aufgrund ihrer kürzeren Krankheitszeit weniger Gelegenheit, Viren zu verbreiten“, sagt Debatin.

Andere Studien, andere Resultate

Über die Ansteckungsgefahr von und über Kindern war in letzter Zeit viel diskutiert worden. Studienergebnisse dazu kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen: Eine Untersuchung in Island beispielsweise fand keinen positiven Befund bei Kindern unter zehn Jahren. Bei einer Studie aus China wiederum zeigte sich, dass Kinder genauso ansteckend seien wie Erwachsene. Auch der Berliner Virologe Christian Drosten hatte in einer kleineren Studie aufgezeigt, dass Kinder in Bezug auf die Viruslast keinen großen Unterschied zu Erwachsenen zeigen – und somit genauso ansteckend sein können.

Mit der Studie an den baden-württembergischen Unikliniken im Land wollen die Wissenschaftler im Land für mehr Klarheit sorgen: „Unserer Datensatz ist bislang weltweit am größten“, sagt Hans Georg Kräusslich, Leiter des Zentrums für Virologie am Uniklinikum Heidelberg. Demzufolge könne man klar sagen, dass Kinder im Bezug auf das Coronavirus keine Virentreiber sind.“

Über die Gründe, warum Kinder die Viruserkrankung Covid-19 so gut wegstecken, können Wissenschaftler bislang nur Vermutungen äußern: So verfügen Kinder seltener bis gar nicht über den Rezeptor, über den das Virus in die menschlichen Zellen eindringen kann – was derzeit in Studien untersucht werden soll. Zudem haben Kinder ein aktiveres Immunsystem, dass die Viren im Körper bekämpft, bevor sich die Infektion in die Lunge ausbreiten kann. Auch kommt es fast nicht zu einer überschießenden Immunreaktion, die bei Erwachsenen wiederum oft tödlich enden kann. „Es zeigt sich immer mehr, dass die Wissenschaft im Bezug auf das Coronavirus von Kindern noch etwas lernen können“, sagt Debatin.

Endgültig wird die Studie Anfang Juli veröffentlicht werden. An den Zahlen und zentralen Aussagen aber, betonen die Studienleiter, werde sich nichts mehr ändern.