Im Osten den bayerischen Landeshauptstadt mausert sich ein Industriegelände zum urbanen Trend-Quartier: das Werksviertel vereint Kunst und Kommerz, Leben und Arbeiten, Street Art und Symphonieorchester. Und es gibt sogar Schafe auf dem Dach.

Leben: Susanne Hamann (sur)

München - Die bunt bemalten Container mit der Skulptur eines geflügelten Pferdes obendrauf bilden eine Art Stadttor. Dahinter öffnet sich ein Platz, gesäumt von weiteren Containern. Darin: Läden, Ateliers, Kneipen. Bänke laden zum Sitzen ein. Bäume spenden Schatten. An einem Hochtisch teilt sich ein Pärchen einen Weißen aus dem Bocksbeutel. Kinder schlendern mit einem Eis in der Hand vorbei, im Hintergrund recken sich Rohbauten in die Höhe, dazwischen tanzen Baukräne. Das Münchner Werksviertel ist eines der derzeit spannendsten Stadtentwicklungsprojekte in Deutschland. Ähnlich wie die Hamburger Hafencity mausert sich ein Gewerbeareal zum urbanen Trend-Quartier. Im Boden eingelassene Schienen erzählen noch von der industriellen Geschichte dieses Ortes im Stadtteil Berg am Laim, kaum zwei Kilometer entfernt vom Marienplatz.

 

Zukunftslabor des Städtebaus

Früher wurden hier Kartoffeln zu Knödeln verarbeitet, Motorräder hergestellt, Kleidungsstücke geschneidert und Schmierstoffe produziert. Ab Mitte der 80er Jahre verließen die Firmen Pfanni, Zündapp, Konen und Optimal nach und nach den Standort, 1996 gingen im Kartoffelwerk die Lichter aus. „Die Knödel und das Püree werden jetzt in Mecklenburg hergestellt, und hier geht es alternativ zu“, sagt Heinz Burghard. Der 64-jährige Künstler ist so etwas wie der Außenminister des Werksviertels. Schon vor Ewigkeiten hat er sein Atelier aus dem immer teurer werdenden Schwabing hierher verlegt. Damals nannte man das Gelände noch Kunstpark Ost oder Kultfabrik, die umliegenden Nachbarn beschwerten sich oft über Partylärm, alles war sehr improvisiert.

Nach 17 Jahren Planung gibt es nun ein Konzept und einen Bebauungsplan: Start-ups, Kreative, Künstler und Musiker sollen weiter eine Heimat haben, für Familien wird neuer Lebensraum geschaffen. Man möchte ein Zukunftslabor des Städtebaus sein. Dabei gilt: bloß keine Retorte! Einen Teil der Miete „arbeitet“ Heinz Burghard ab, indem er am Infostand sitzt und vorbeiflanierenden Besuchern Fragen beantwortet. „Ich sag’ den Leuten, dass alles ganz toll ist und es noch viel besser wird“, sagt der 64-Jährige, lacht und erklärt – jetzt mal ohne Schmarrn –, dass der Meatpacking District Vorbild für das Werksviertel sei. Auch der Schlachthofbezirk in New York hat sich zu einem Szeneviertel gemausert, das seine Wurzeln nicht verleugnet.

Die Erdäpfel-Vergangenheit ist allgegenwärtig

Das Werksviertel ist 38 Hektar groß, das entspricht in etwa 54 Fußballfeldern. Das Gelände gehört dem Pfanni-Erben Werner Eckart und noch ein paar weiteren Besitzern. Der Kartoffelkönig hätte den Ex-Firmensitz gewinnbringend verkaufen können, doch das war ihm zu langweilig. Er will „den Münchnern ein Stück München zurückgeben“, sagt Heinz Burghard und erzählt von einem sozial denkenden Menschen, der größeren Firmen mehr Miete abknöpft und von den kleineren dafür weniger verlangt. Querfinanzierung nennt man das.

Mit der Erdäpfel-Vergangenheit wird augenzwinkernd gespielt. Es gibt ein Kartoffelmuseum, die Häuser tragen noch die alten Namen wie „Werk 3“, es gibt eine Straße „Am Kartoffelgarten“ und eine Püreeallee. Auch die Signalfarbe Orange – Markenzeichen von Pfanni – ist allgegenwärtig. Manches alte Fabrikgebäude wurde umgebaut, anderes abgerissen. So entwickelt sich eine spannende Mischung aus Alt und Neu.

Hochkultur und Street-Art in schönster Eintracht

In 10 bis 15 Jahren soll alles fertig sein. Dann wird es auf der urbanen Spielwiese 1500 Wohnungen, Büros mit 7000 Arbeitsplätzen, fünf Hotels, 30 000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche, eine Schule und drei Kindertagesstätten geben. Kürzlich wurde beschlossen, dass das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Werksviertel ein neues Konzerthaus bekommt. Im Juli ging der Auftrag an die österreichischen Architekten Cukrowicz Nachbaur, 2021 soll die siebenstöckige Glastonne fertig sein. Den Entwurf aus Vorarlberg nennt man in München leicht spöttisch „Schneewittchensarg“, dennoch ist man in der Stadt stolz auf das Prestigeprojekt und freut sich, bald Hochkultur und Street-Art in schönster Eintracht nebeneinander zu sehen.

Bereits am Start ist der Musical-Anbieter Stage Entertainment. „Beim Aufführungsort stand schnell fest: Es darf kein klassisches Theater sein, sondern ein Haus, in dem das Live-Miterleben nah und authentisch möglich ist. Das Werk-7-Theater im Werksviertel ist perfekt dafür“, sagt die Geschäftsführerin Uschi Neuss. Bislang konnte man „Fack ju Göhte“ sehen, eine Adaption der gleichnamigen Filmreihe mit Elyas M’Barek. Im Frühjahr 2019 feiert das neue Stück „Die fabelhafte Welt der Amélie“ Premiere. Regisseur Christoph Drewitz arbeitet gerade an den letzten Details und verspricht „eine der charmantesten Bühnengeschichten der letzten Jahre“.

Klettern im Kartoffelsilo

Im ehemaligen Kartoffelsilo wird heute geklettert. Rund um den grauen Betonturm wird fleißig gebaut: Bald soll es dort ein Hotel geben. Ein wirklich kurioses Projekt befindet sich auf dem Dach von Werk 3: eine 2500 Quadratmeter große Wiese, auf der Schafe grasen. Das Umweltbildungsprojekt „Almschule“ soll Stadtkindern die Natur nahebringen. Schulklassen können hier Lämmer streicheln, Bienen beobachten, Wolle spinnen und in Hochbeeten etwas anpflanzen.

„Kulturell geht hier echt was“, sagt Florian Rottach. Der 30-jährige Realschullehrer jobbt am Wochenende bei Hey Minga, einem Start-up für alternative Stadtführungen. Die Touren im feuerroten VW-Bulli starten im Werksviertel. Dort ist erstens der Firmensitz, zweitens wollen die Stadtführer das bemerkenswerte Areal herzeigen. „Alles ist hier in Bewegung“, sagt Florian Rottach, „wenn man das nächste Mal vorbeischaut, kann alles schon ganz anderes sein.“

Hinkommen, Unterkommen, Rumkommen

Unterkunft

2017 hat die Kette 25Hours eine Dependance in München eröffnet. The Royal Bavarian spielt mit bayerischen Elementen, man nächtigt hier cool und erfrischend anders. Doppelzimmer ab 125 Euro, www.25hours-hotels.com.Das Ruby Lilly Hotel Munich ist eine hippe Herberge, DZ ab 115 Euro, www.ruby-hotels.com.

Aktivitäten

Das Werksviertel am Ostbahnhof kann täglich erkundet werden. Die Läden haben nur zu den üblichen Zeiten geöffnet, www.werksviertel.de. Besuche in der Almschule nach Voranmeldung, www.almschule.de. Karten für das Musical unter www.stage-entertainment.de.Alternative Stadttouren mit Hey Minga gibt es in der Gruppe oder individuell, Preisbeispiel: 2,5 Stunden kosten 39 Euro pro Person, www.heyminga-touren.com.

Allgemeine Informationen

München Tourismus, www.einfach-muenchen.de