Warum zieht man ausgerechnet vor der Fastenzeit das Narrengewand an? Der Kulturanthropologe Werner Mezger ist ein profunder Kenner der Materie – und räumt gleich mit ein paar pseudowissenschaftlichen Narreteien auf.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Esslingen/Freiburg - D

 

ie Fasnet breitet sich aus. Sie dringt vom katholischen süddeutschen Raum nach Norden. Sie hat in den letzten Jahrzehnten das protestantische Württemberg erobert und grenzt mittlerweile an die Gebiete des Rheinischen Karnevals. Weiter vordringen wird sie nicht, schätzt der Freiburger Kulturanthropologe Werner Mezger, der dazu auch ein paar Zahlen hat: Gab es im überwiegend protestantischen Kreis Tübingen nach dem Krieg nur drei Narrenzünfte, sind es jetzt weit mehr Zünfte, als es Gemeinden gibt.

Auch in Esslingen verschwindet der rheinische Karneval immer mehr zugunsten der schwäbisch-allemanischen Herangehensweise an die Fastnacht mit seinen Hochburgen in den katholischen Städten Neuhausen und Wernau, wo die Hexen tanzen statt Funkenmariechen. Diese beiden Städte gehörten einst Reichsrittern, die als treue Anhänger des Kaisers katholisch geblieben waren. Württemberg war durch Herzog Ulrich protestantisch geworden, der mit dem Kaiser in ständiger Fehde lebte und ihm vermutlich so eins auswischen wollte. Also führte er die Reformation ein. Und nach den Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens mussten alle Untertanen die Konfession annehmen, die der Landesherr wünschte.

Die Konfessionen spielen keine Rolle mehr

Werner Mezger ist sicherlich der Wissenschaftler in Süddeutschland, der die Fasnet am besten erforscht hat. Er hält Vorträge in der ganzen Republik, auch im Großraum Stuttgart, zuletzt war er in Plochingen in der Stadthalle. „Aber nennen Sie mich bloß nicht Fasnets-Papst!“, sagt er. „Der Papst ist unfehlbar, ich bin es nicht.“ Werner Mezger beobachtet zwei Entwicklungen in der Fasnet, eine Hedonisierung und eine Entkonfessionalisierung. War es noch bis zum Zweiten Weltkrieg für einen echten Protestanten völlig undenkbar, beim Heidenspektakel der Fasnet mitzumachen, verkleidet man sich jetzt über die Konfession hinweg.

Die Hedonisierung, die egoistische Selbstliebe, sei das Problem, erläutert Werner Mezger. Während im Rheinischen Karneval die Gesichter unverhüllt sind, tragen die allemannischen Narren Masken. Die verleiten gerade in Gegenden, wo es keine lange und gute Tradition gibt, die Maskenträger dazu, über die Stränge zu schlagen. Dabei ist nicht nur das lästige Schuhbändel-Klauen gemeint.

Trauriges Beispiel war der Umzug in Eppingen bei Heilbronn im vergangenen Jahr. Dort wurde eine junge Frau schwer verletzt, weil verkleidete Hexen sie über einen Kessel mit heißem Wasser gehalten hatten. Der Täter wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. „Das ist für mich der Tiefpunkt der Fasnet“, sagt Mezger entrüstet. Denn in Gegenden mit einer alten und lange gewachsenen Tradition würde das Fasnetsmotto „jedem zur Freud und keinem zum Leid“ beherzigt werden.

Apropos Heidenspektakel. Vor allem die Nationalsozialisten hatten im Dritten Reich versucht, die Fasnet von der Religion zu trennen, indem sie den Fasching auf germanisch-heidnische Wurzeln zurückführten. Eine Mischungs aus Missverständnis und ideologischer Lüge. Besonders gut zeigen lässt sich das anhand des Weltbuchs des Kosmografen Sebastian Franck, der im Jahr 1532 in Esslingen gelebt hatte.

Das Missverständnis kursiert bis heute

Franck betrieb dort eine Seifensiederei, musste aber wegen mangelnder Nachfrage nach Ulm weiterziehen. Er hatte die Fasnetsbräuche der katholischen Städte als „heidnisch“ beschrieben. Aus der Sicht eines echten Protestanten, zumal in dieser Zeit, waren natürlich alle katholischen Kirchenbräuche nichts weiter als heidnisches Blendwerk gewesen. Die Brüder Grimm wiederum glaubten, Franck habe mit „heidnisch“ nicht „katholisch“, sondern „ germanisch“ gemeint, und das Missverständnis von den germanischen Wurzeln der Fasnet begann zu kursieren – bis heute.

Werner Mezger, ein gebürtiger Rottweiler, ist natürlich mit der Fasnet und dem Rottweiler Narrensprung aufgewachsen. Im Zentrum seiner Forschung stand die Figur des Narren. Was ist der Narr? fragte er sich. Die Antwort und die wohl älteste Erwähnung des Narren fand er im Psalm 53, Vers 2 der Bibel: „Die Toren sprechen in ihrem Herzen, ,es ist kein Gott’“

Der Narr also ist jener, der das Wort Gottes nicht hört und damit am Aschermittwoch der Sterblichkeit anheim fällt, die an Ostern durch Christus wieder aufgehoben wird. Im Grunde ist die Fasnet also das Nachspielen der Heilsgeschichte. In dieser Interpretation bleibt die Fasnet ganz allein in einer christlichen Tradition bestehen und steht deswegen naturgemäß am Beginn der Fastenzeit.

Für den Forscher Werner Mezger indessen ist die Fasnet weit mehr als ein Fest mit Verkleidung und Fasnachtskrapfen. „Der Narr ist ein ganzes Universum“ sagt der Freiburger Professor. Und der Karneval, der in ganz Europa gefeiert werde von Venedig bis Lissabon, sei in seinen verschiedenen Ausführungen vor allem eines: Ein großes kulturelles Kapital Europas.