Werner Stengel hat sein ganzes Leben lang Achterbahnen gebaut. Sie stehen auf der ganzen Welt. Im Interview erklärt der 83-Jährige, wie er es anstellt, dass die Fahrgäste Kurven, Spiralen und Loopings unfallfrei passieren.

Bochum - Der Münchner Ingenieur Werner Stengel hat bei Achterbahnen die Modelle Klothoide und die Herzlinie eingeführt. Seitdem gibt es selten Verletzungen. Wir haben mit dem 83-Jährigen gesprochen.

 

Herr Stengel, wann sind Sie das erste Mal Achterbahn gefahren?

Das war 1946 oder 1947 auf der Cranger Kirmes im Ruhrgebiet. Dort stand ich zum ersten Mal vor einer Achterbahn. Ich muss so sehnsüchtig geschaut haben, dass mich ein Mann mit Holzbein ansprach. Der durfte als Kriegsversehrter noch eine zweite Person kostenlos mitnehmen. So kam ich zu meiner ersten Achterbahnfahrt.

Wie kamen Sie zum ersten Auftrag?

Das war Zufall. Nach Hauptschulabschluss, Maurerlehre und Bauingenieurschule in Kassel konnte ich mir mit 26 Jahren meinen Traum erfüllen und an einer Universität studieren. Da war ich aber schon verheiratet und hatte eine Tochter. Ich musste also Geld verdienen und arbeitete neben meinem Studium an der TU München in einem kleinen Ingenieurbüro. Die bekamen den Auftrag einen Autoscooter zu berechnen. Da traute sich aber keiner so recht ran. Ich fragte den Chef: „Darf ich die Pläne übers Wochenende mitnehmen?“ Drei Tage später war ich mit den Statik-Berechnungen für meinen ersten Fliegenden Bau, besagtem Autoscooter, fertig. Fliegender Bau, darunter versteht man alle Anlagen, die man auf- und wieder abbauen kann. Zwei Jahre später kam dann die erste Achterbahn-Anfrage für das Oktoberfest 1964. Seitdem haben mich Achterbahnen und die Freizeitindustrie insgesamt nicht mehr losgelassen.

Was fasziniert Sie besonders?

Als Fahrgast begeistern mich die wechselnden Beschleunigungen und die unterschiedlichen Überschlag- und Überkopf-Elemente, im Fachjargon spricht man von Inversionen. Dazu zählen natürlich auch die Loopings. Etwas ganz Besonderes ist das kurze Gefühl der Schwerelosigkeit, welches moderne Achterbahnen bieten. Wir sprechen von der „Airtime“ (dt. Luftzeit). Als Ingenieur begeistert mich, was mittlerweile alles möglich ist. Achterbahnen sind pure Mathematik und Physik.

Wie hat sich in den 50 Jahren verändert?

Die erste von mir entworfene Stahlachterbahn war 13,5 Meter hoch und fuhr 54 Stundenkilometer schnell, heute fahren Achterbahnen mit einer Geschwindigkeit von über 200 Stundenkilometer. Für meine ersten Achterbahnen habe ich die Geschwindigkeitsberechnung mit dem Rechenschieber ermittelt. Wenn etwas nicht gepasst hat, habe ich alles um einige Zentimeter verschoben und von vorne angefangen zu rechnen. Für eine Berechnung, die damals eine Woche dauerte, braucht der Computer heute nur noch Sekunden. Trotzdem bleibt die Planung von Achterbahnen sehr anspruchsvoll, denn die Streckenführungen und Inversionen werden ja komplexer. Mit zunehmend waghalsigen Kurven, Spiralen und Loopings steigt natürlich der Aufwand der statischen Berechnungen. Eine Achterbahn muss ja absolut sicher für die Gäste sein.

Wie sicher sind denn Achterbahnen?

Die Wahrscheinlichkeit sich ernsthaft in einer Achterbahn zu verletzen liegt so hoch wie zweimal sechs Richtige im Lotto zu gewinnen. Also bei 1 zu 280 Millionen. Achterbahnfahren ist also viel sicherer als Auto fahren. Dazu kommt, dass Achterbahnen heute aus Sicherheitsgründen alles doppelt vorhalten müssen. Es gibt Räder und Gegenräder, es gibt doppelte Rückhaltesysteme und so weiter, wir sprechen als Ingenieure von Redundanzen.

Sie haben zwei Standards eingeführt, die das Achterbahnfahren gesünder machen: Die Klothoide und die Herzlinie.

1975 entwickelte ich den ersten Looping, der nicht kreisrund war, sondern einer Klothoide entspricht, das ist eine Spiralkurve mit immer kleiner werdenden Krümmungsradien. Dazu habe ich mich vom Straßenbau inspirieren lassen, unter anderem von den Kurven der Autobahnausfahrten. Dank der von mir gewählten Klothoiden-Form fallen die Ein- und Ausfahrten in einem Looping deutlich flacher aus. Sie sind damit wesentlich verträglicher für die Insassen.

Und was versteht man unter der Herzlinie?

Ich entwickelte die Streckenführung so, dass sich die horizontalen Kurven nicht um die Schienenmitte drehen, also unterhalb der Füße der Insassen, sondern weiter oben auf Höhe der Brust. Diese Änderung bewirkt, dass sich die Strecke der seitlichen Kopfbewegung deutlich reduziert und damit auch die Querbeschleunigung minimiert. Heute spricht man vom Prinzip der Herzlinie, aber der Begriff stammt nicht von mir.

Wie oft fahren Sie noch Achterbahn?

So etwa zwei bis dreimal im Jahr. Nicht mehr so oft wie früher, ich bin ja im Ruhestand. Aber den von mir entworfenen Fünfer-Looping auf dem Oktoberfest fahre ich immer noch gern.