Bislang galt: Wir wollen Spaß und geben Gas. Doch jetzt drückt Corona auf die Bremse. Was macht das mit uns, fragt Smadar Goshen in ihrem Tanzstück „Peninsula Flora“.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Motte heißt ein kleines Segelboot. Passend zum Namen jagen die kippligen Ein-Mann-Jollen nervös übers Wasser, nötigen ihre Piloten zu akrobatischen Manövern. Wer in der Corona-Zeit an einem Seeufer sitzt und eine solche Motte beobachtet, dem muss das schwimmende Extremgerät vorkommen wie der Bote aus einer untergehenden Zeit. Die Motte, die sich bei rasantem Tempo aus dem Wasser erhebt und auf einer schmalen Kufe quasi darüber hinwegfliegt, ist das perfekte Sinnbild der modernen Kultur der Beschleunigung: alle Vorgänge sind extrem dynamisiert, der Segler ist ein Getriebener, nur bei Höchstgeschwindigkeiten stabilisiert sich sein Boot.

 

Beschleunigung als Grundvoraussetzung des Daseins? Corona hat das Tempo in so vielen Bereichen heruntergefahren, dass wir plötzlich mit Unbehagen auf die nervöse Zeit davor und auf ihre Sinnbilder schauen. Dazu kann auch der Tanz gehören. Eine auf Höchstleistung getrimmte Virtuosen-Show, ein Motten-Ballett sozusagen, braucht gerade keiner.

Getanzt wird in einer ehemaligen Kirche

Einen wunderbaren Gegenentwurf hat vor kurzem die israelische Tänzerin und Choreografin Smadar Goshen vorgestellt. Ihr Duett „Peninsula Flora“, das sie selbst mit Selina Koch tanzt, macht den Körper zum hochsensiblen Kommunikationsinstrument. Zu sehen war es zum Saisonauftakt der freien Szene in Stuttgart in einem ehemaligen Kirchenraum im Eckartshaldenweg. HuMBase nennt sich der Performance-Ort jetzt; der hohe, helle Saal, einst Zuhause einer neuapostolischen Gemeinde, kommt den Corona-Vorgaben sehr entgegen.

Hell, fast meditativ klar und karg ist mitten darin die Szene für „Peninsula Flora“. Knapp 40 Zuschauer sitzen an allen vier Seiten, ein paar wenige auch direkt auf dem weißen Boden. Den erkunden die beiden Tänzerinnen mit vorsichtigen Gesten, mit Fingern, die sich wie Triebe nach oben ranken. Sie erinnern in ihren Kleidern mit aquarellierten, floralen Motiven tatsächlich an Pflanzen. Wie in einem Wald oder auf einer Wiese, die aus einer Summe in Verbindung stehender Pflanzenindividuen bestehen, verstehen die zwei Bewohnerinnen der Flora-Halbinsel sich blind. Eine kompakte Haarsträhne verdeckt ihre Augen.

Wie man Ängste ausbalanciert

Verlangsamung inszeniert „Peninsula Flora“ mit kraftvollen Bewegungen, die selbst dann präzise bleiben, wenn sich Körper wundersam verwinden. Die knappe Stunde der Performance reicht kaum, um sich an allen Wunderlichkeiten statt zu sehen, leise untermalt von freundlichen Naturgeräuschen.

Wie überlebt man in einer Zeit, die sich radikal ändert? Aggression ist eine Antwort auf die Entschleunigung, die wir gerade erleben, wie der Kulturwissenschaftler Christian Kohlross besorgt notiert: „Wird das hoch beschleunigte Leben jedoch radikal verlangsamt oder kommt wie in Corona-Zeiten plötzlich zum Stillstand, kommt auch das kollektiv verdrängte Unbehagen an der Kultur der Beschleunigungsmoderne zu Bewusstsein – vor allem, und derzeit fast überall auf der Welt, in Gestalt von Angst und Aggression.“

Von der Natur lernen? Warum nicht! Smadar Goshen rät zum furchtlosen Innehalten, zum Erfühlen der neuen Situation. Die israelische Tänzerin, die sich in Stuttgart als Gyrotronic-Trainerin niedergelassen hat und nun als verblüffende Künstlerin die freie Szene bereichert, hat in ihrer Heimat bei Ohad Naharin auch die Gaga-Technik studiert, sie weiß um die soziale Kraft, das Verbindende des Tanzens, das Menschen zusammenbringt. So sind Angst und Unbehagen im kippligen Boot, in dem wir gerade alle sitzen, vielleicht leichter auszubalancieren.