Immer mehr Deutsche landen wegen politischer Vorwürfe in der Türkei hinter Gittern. Die Opposition im Bundestag wirft Präsident Erdogan vor, zum „Geiselnehmer“ geworden zu sein. Ein neues Notstandsdekret erlaubt es ihm, ausländische Gefangene auszutauschen.

Istanbul - Trotz der Aufrufe der Bundesregierung zur Freilassung inhaftierter Deutscher sind in der Türkei zwei weitere Bundesbürger festgenommen worden. Die Flughafenpolizei in Antalya habe die Festnahmen bestätigt, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amts am Freitag in Berlin. Der konkrete Grund war zunächst unbekannt. Das Auswärtige Amt ging aber davon aus, dass es sich um einen politischen Vorwurf handelte, konkret um Terrorverdacht.

 

Die Festgenommenen sind den Ministeriumsangaben zufolge keine Doppelstaatsbürger, sondern haben ausschließlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Außenminister Sigmar Gabriel sagte der „Westdeutschen Zeitung“, möglich sei, dass sie türkische Wurzeln hätten, aber auch das sei ungewiss. „Wir wissen zur Stunde noch nicht einmal, ob sie bei der Ein- oder Ausreise verhaftet worden sind.“

Derzeit sind nach Angaben des Auswärtigen Amts 55 deutsche Staatsangehörige in türkischer Haft oder in Polizeigewahrsam, davon inklusive der zwei jüngsten Fälle zwölf aus politischen Gründen. Wieviele davon neben der deutschen noch die türkische Staatsbürgerschaft besitzen, ist nicht bekannt. Der bekannteste Gefangene ist der deutsch-türkische „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel, der am Freitag 200 Tage hinter Gittern war.

Die erneuten Festnahmen dürften die deutsch-türkischen Beziehungen weiter belasten. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz sieht bald den Punkt erreicht, um Gegenmaßnahmen gegen die Türkei zu verhängen. Das sei keine Frage mehr von Wochen, sondern müsse in den nächsten Tagen von der Bundesregierung geprüft werden, sagte Schulz am Freitag in Berlin.

In Deutschland wächst der Verdacht, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan könnte Bundesbürger womöglich als Faustpfand festhalten. Grünen-Chef Cem Özdemir sagte der „Bild“-Zeitung (Samstag): „Erdogan ist kein Präsident, sondern ein Geiselnehmer.“ Die Situation sei so ernst, „dass ich niemandem mehr mit gutem Gewissen sagen kann, dass man in der Türkei derzeit sicher ist“.

Bereits Ende Juli hatte der Sprecher des Auswärtigen Amts, Martin Schäfer, gesagt, die Bundesregierung unternehme alles, damit diese Deutschen „eben nicht zu Geiseln der türkischen Regierung werden“. Erdogan verweist dagegen stets auf die Unabhängigkeit der türkischen Justiz, die westliche Experten aber anzweifeln.

Besonders belastend für die Festgenommenen ist die rechtliche Lage im Ausnahmezustand, den Erdogan nach dem Putschversuch vom Juli 2016 verhängt hat. Mit einem Notstandsdekret vom Freitag vergangener Woche wurde die maximale Länge der Untersuchungshaft bei Vorwürfen im Zusammenhang etwa mit Terrorismus oder mit Spionage von fünf auf sieben Jahre erhöht. Untersuchungshäftlinge wie Deniz Yücel, dem Terrorpropaganda und Volksverhetzung vorgeworfen werden, müssen also befürchten, im schlimmsten Fall sieben Jahre hinter Gittern zu sitzen, ohne überhaupt verurteilt worden zu sein.

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit blieb ein weiteres Dekret vom Freitag vergangener Woche. Der Erlass erlaubt es der türkischen Regierung, mit Zustimmung des Präsidenten inhaftierte Ausländer in der Türkei gegen bestimmte Türken im Ausland auszutauschen, die dort verhaftet oder verurteilt wurden - „sofern die nationale Sicherheit und das Interesse des Landes es erfordern“. Dabei handelt es sich laut Dekret um Mitarbeiter des Geheimdienstes MIT oder solche Staatsbedienstete, die während Tätigkeiten im Auftrag des Ministerpräsidenten- oder Präsidentenamtes Straftaten begangen haben.

Die deutsch-türkischen Beziehungen sind seit Monaten auf Talfahrt

Von kommendem Donnerstag an muss sich ein mutmaßlicher türkischer Spion vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit in Deutschland verantworten. Der 32 Jahre alte Angeklagte sitzt seit Mitte Dezember 2016 in Untersuchungshaft und ist nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft seit 2013 für den MIT tätig. Außerdem sind in den USA in Abwesenheit Personenschützer Erdogans angeklagt, denen Angriffe auf Demonstranten in Washington vorgeworfen werden.

Deniz Yücels Ehefrau Dilek Mayatürk-Yücel rief zu Solidarität mit dem inhaftierten Journalisten auf. „Natürlich aber gilt die Aufforderung immer noch: Solidarität ist wichtig für Deniz und macht ihn stärker“, sagte sie „Spiegel Online“. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Freitag in Berlin, die Bundesregierung sei in Gedanken bei Yücel. Sie arbeite täglich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln für seine Freilassung und eine möglichst gute und intensive Betreuung.

„Wir erwarten von der Türkei, dass die deutschen Staatsbürger, die aus nicht nachvollziehbaren Gründen in der Türkei inhaftiert sind, freigelassen werden“, sagte Seibert. Rechtsstaatliche Verfahren müssten eingehalten werden, auch das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen. So dürften Informationen über die Festnahme von Betroffenen nicht unterlassen und eine konsularische Betreuung nicht verweigert werden. Nach Angaben des Auswärtigen Amts wurde dem Generalkonsulat der telefonische Kontakt zu den beiden nun festgenommenen Deutschen verwehrt.

Zu den inhaftierten Deutschen in der Türkei gehört auch der Menschenrechtler Peter Steudtner. Nach seiner Inhaftierung hatte das Auswärtige Amt die Reisehinweise für die Türkei verschärft und Deutschen „zu erhöhter Vorsicht geraten“. Die Linke-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen forderte die Bundesregierung nun auf, eine offizielle Reisewarnung auszusprechen. Auch Schulz sagte, es müsse geschaut werden, „wie weit man in der Skala da gehen kann“.

Die deutsch-türkischen Beziehungen sind seit Monaten auf Talfahrt. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, sagte dem ZDF: „Sicherlich haben beide Seiten Fehler gemacht, aber man kann nicht einfach Menschen einsperren und festhalten, weil man gerade schlechter Laune ist in den Beziehungen.“ Die Menschen müssten freigelassen werden. „Und wir müssen ordentliche Gespräche führen können miteinander.“