Das Beben, die Cholera und dann Hurrikan Sandy mit seinen Überflutungen: in Haiti frisst jede neue Katastrophe die bisherigen Erfolge auf. Die Helfer machen trotzdem weiter.

Marigot - Sie nennen ihn Monster, fürchten seine überschäumende Kraft, die alles mit sich reißt. Ihre Plantagen, ihre Häuser, ihr Leben. Wenn der Große Fluss von Marigot über das Ufer steigt, ist das Unglück nicht mehr aufzuhalten, weiß Teresia Jeudi. „Er macht mir Angst“, sagt die haitianische Bäuerin, legt die Schaufel beiseite und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

 

Das Monster schläft an diesem sonnig-schwülen Tag, es ist das Ende der Regenzeit, der Fluss der Küstenstadt Marigot im Süden Haitis ist nur mehr ein Rinnsal in einem gigantischen Schotterbett, umrahmt von Geröll auf 200 Meter Breite, als hätten die Götter mit Kieseln gespielt. „Dort war mein Feld mit Bohnen und Bananen“, klagt die Bäuerin und zeigt auf einen

Grünstreifen mit einzelnen Palmen, „fast alles ist weg.“ Teresia Jeudi trägt Gummistiefel und Bauhelm, sie schleppt mit ein paar Dutzend anderen Bauern Steine aus dem Flussbett, in einer Menschenkette reichen sie die kiloschweren Brocken weiter. Mühsame Handarbeit, es geht nur langsam voran. „Wir legen die verschütteten Bewässerungskanäle frei“, sagt die 52-Jährige, „die Zeit drängt, wir wollen wieder aussäen.“

Es liegt ein Fluch auf Haiti. Erst forderte das Erdbeben am 12. Januar 2010 mindestens 220 000 Leben und verwandelte das Land in das größte Obdachlosenheim der Welt. 1,2 Millionen Menschen hatten kein Dach mehr über dem Kopf. Dann kam aus einem Camp von UN-Blauhelmsoldaten, die den Frieden ins Land bringen sollten, die Cholera. 7600 Menschen starben an dem Bakterium, das sich schnell ausbreitete, weil sauberes Wasser und Seife rar sind. Und Hurrikans zerstören, was übrig geblieben ist. Isaac tobte im August, Sandy tötete Ende Oktober 60 Menschen, zerlegte Brücken und 20 000 Häuser. Die Wirbelstürme bringen den Hunger. Mehr als eine Million Menschen werden wegen der Ernteausfälle nicht genug zu essen haben.

Die Hoffnung auf bessere Zeiten hat Teresia Jeudi trotzdem nicht aufgeben. „Drei Ziegen, drei Schweine und meine Rinder sind ertrunken, aber ich mache weiter“, erzählt die Bäuerin, die es mit einem Krämerladen zu etwas Wohlstand gebracht hat. Sie und ihr Mann versorgen fünf Kinder, dazu die zwei Kleinen ihres Bruders, den sie während der Choleraepidemie nicht rechtzeitig zur Krankenstation bringen konnten. Den letzten Kredit steckten sie in ein neues Dach, das alte hatte Isaac weggerissen. Jetzt ist sie froh, fürs Steinetragen Geld zu bekommen. Die deutsche Welthungerhilfe zahlt fünf US-Dollar pro Tag, nach zwei Wochen hat sie genug zusammen, um Saatgut für die nächste Saison zu kaufen.

Das Land wird ins Meer gespült

Die Katastrophen sind kein Naturgesetz. „Das Problem liegt weiter oben in den Bergen“, sagt Beate Maaß, Projektleiterin bei der Welthungerhilfe. Die 37-Jährige mit der unglaublichen Energie will mehr erreichen, als nur Symptome zu bekämpfen. Haiti wurde kahl geschlagen über die Jahrzehnte, fast nackt ist es der Erosion ausgeliefert, nur noch zwei Prozent des Landes sind bewaldet. So können Sandy, Isaac und all die anderen Stürme ungebremst wüten und die fruchtbare Erde abtragen. Statt zu versickern, flutet der Regen die Insel.

„Haiti braucht Erosionsprojekte, Schutzwälle und Steinstufen, es braucht Bepflanzungen und Erdbefestigungen“, zählt Maaß auf. Im weißen Geländewagen geht es quer über das gebirgige Relief der Tropeninsel, vorbei an Häusern, auf deren Dächern Matratzen trocknen, und einem Bürgermeisteramt, das in Blechcontainern mit Ventilatoren untergebracht ist. Ein Geschenk der Vereinten Nationen. Das ist Luxus, sagen sie und halten es in den Büchsen kaum aus, so heiß ist es darin.

Wie die Überflutung gestoppt werden kann

Die Reise führt von Marigot ins hundert Kilometer entfernte Petit-Goave, 12 000 Einwohner, einigermaßen funktionierendes Frühwarnsystem beim Hurrikan. „Es gab SMS, Durchsagen mit dem Megafon und Unwetterankündigungen im lokalen Radio“, erzählt Maaß. Nur die handbetriebenen Sirenen aus den USA, die sie verteilen wollten, steckten leider noch im Zoll fest. „Die sind ideal für Regionen ohne Handyempfang.“

Maaß klettert eine Böschung voll Müll hinab, um zu zeigen, wie man es machen müsste, an all den anderen Orten, die immer, wenn es stürmt, unter Wasser stehen. „Das hat gehalten, auch bei Sandy“, sagt Maaß, mit Blick auf riesige Drahtkörbe. Sie sind mit Steinen gefüllt, aufeinander gestapelt wie eine Treppe. Eine künstliche Mauer in der Flussbiegung, die die Zelte und Häuser vor den braunen Hochwasserfluten schützt. Drei Monate haben die Bewohner daran gebaut, die 30 000 Euro europäische Hilfsgelder sind gut investiert.

Nicht immer kommt in Haiti das Geld an der richtigen Stelle an. Tausende Nichtregierungsorganisationen konkurrieren beim Aufbau des Landes. Zu viel laufe parallel oder gar nicht, kritisieren die Helfer. Jeder kennt Geschichten des Versagens, mal aus Dummheit, mal aus Eitelkeit oder Gier. Wie der haitianische Rapper Jean Wyclef und seine mittlerweile abgewickelte Hilfsorganisation Yéle mit Geldern jongliert haben. Laut einem Bericht der „New York Times“ wurden Millionen Spendendollar nicht für Projekte, sondern für teure Charterflüge, Gehälter und Beraterhonorare ausgegeben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Oder dass Notunterkünfte mitten in einer Schlucht stehen – gebaut von einer NGO, beim nächsten Hurrikan eine Todesfalle. „Man kann nur den Kopf schütteln“, ärgert sich Beate Maaß, „da baust du ein Haus in der Risikozone in der Hoffnung, dass die nächsten drei Jahre kein Zyklon kommt.“

Überall sind sie zu finden, die provisorischen Häuser, ein Holzgestell, Plastikfolie darauf gespannt – oft schon zerfetzt und wieder geflickt, damit der Regen draußen bleibt. Was als Notbehelf gedacht war, ist für viele längst zu einem Dauerzustand geworden. Dabei wäre es kaum aufwendiger gewesen, von Anfang mit Holz stabiler zu bauen. Solch hübsche Fertigbauten im Einfachstil, wie sie zu Werbezwecken in der Hauptstadt am Straßenrand errichtet worden sind, können sich die wenigsten der zehn Millionen Einwohner leisten. 80 Prozent leben von unter zwei Dollar am Tag, und einen festen Job hat höchstens ein Drittel, die Aussichten auf Arbeit sind miserabel.

Der Präsident hat der Korruption den Kampf angesagt

Die Regierung des früheren Sängers Michel Martelly hat viel versprochen und wenig gehalten. Auf den Kampf gegen Korruption, die die Behörden durchdringt, müssen die Bürger wohl noch lange warten, auch die kostenlose Bildung für alle Grundschüler ist auf absehbare Zeit nicht umsetzbar. Nur jeder fünfte Grundschüler erhält einen Platz in einer der wenigen öffentlichen Schulen. Die Privatschulen sind oft unerschwinglich, zumal die Lebenskosten steigen, die Preise für Mieten und Lebensmittel schrauben sich immer weiter hoch.

Er werde den Erdbebenopfern neue Häuser schenken, hatte Martelly vollmundig angekündigt. Fast drei Jahre nach dem Beben haben noch immer 300 000 Menschen keine feste Bleibe. Zwar sind die Trümmer in Port-au-Prince größtenteils abgeräumt, auch der Schutt des Präsidentenpalasts ist seit Kurzem abtransportiert, aber hartnäckig halten sich überall kleinere und größere Zeltlager. Sie sind verwachsen mit der Nachbarschaft, sie aufzulösen wird immer schwieriger.

Ein Balanceakt ist auch die Zusammenarbeit mit den Helfern. Martelly hatte sich vorgenommen, die Abhängigkeit des ärmsten Staates des amerikanischen Kontinents von ausländischen Hilfsorganisationen deutlich zu verringern. Doch fehlt es seiner Regierung an allem: an Geld und Stärke, an Überblick und der nötigen Durchsetzungsfähigkeit, um die Misswirtschaft zu bekämpfen. So füllen die großen Hilfsorganisationen das Machtvakuum aus, sie haben das Sagen in der Republik der NGOs, wie Haiti spöttisch genannt wird. Und das Schlimmste ist: langfristig gesehen verbessert sich kaum etwas. Egal wie viel Geld von den Geberländern hineingepumpt wird in den geschundenen Staat, über die Jahre hinweg wird das Leid der Bevölkerung nicht geringer. Die bisherigen Erfolge werden aufgefressen von immer wieder neuen Katastrophen.

Kunterbunte Häuser, die den Hurrikans trotzen

So hangeln sich die Helfer von einem Projekt zum nächsten. „Wenn ich keine Fortschritte sehen würde, wäre ich längst weg“, sagt Beate Maaß und glaubt fest daran, dass Haiti ein Land mit Zukunft ist. Sie setzt sich wieder in den klimatisierten Geländewagen. Es geht aufwärts, zu einer abgelegenen Siedlung in der Bergregion bei Petit-Goave, wo nach dem Erdbeben kaum mehr ein Haus stand. Der letzte Hurrikan hat tiefe Rinnen in die Feldwege gerissen, der Jeep legt sich schräg, klettert die Hänge hinauf, bis Beate Maaß aus dem Wagen springt und sich freut über das taubenblau-gelb gestrichene Eigenheim, aus dem ein Lockenkopf mit Puppe gerannt kommt. „Sehen Sie“, sagt sie, „nur das angebaute Verandadach ist weggeflogen, unsere Konstruktion hat sich bewährt beim Hurrikan.“ 19 Quadratmeter Fläche, ein Holzbau, die Farbe durften sich die Bewohner selbst aussuchen – eines von 110. Bunter geht es kaum.

Vom provisorischen Zeltlager in die eigenen vier Wände

Wie belastend Hilfe aber auch sein kann, wenn sie nicht auf Dauer angelegt ist, erzählt Elison Lexius. Der 45-Jährige mit den traurigen Augen lebt in Port-au-Prince, er ist einer der Auserwählten, die mit Frau und drei Kindern umgesiedelt wurden. Elison Lexius verließ im September eines der größten Camps in der Hauptstadt, 60 000 Menschen unter Planen, einst ein Golfplatz in Pétionville, eine Stadt in der Stadt. Er packte seine Habe in Tüten und zog in ein gemauertes Haus. Die Chance ist für den arbeitslosen Maurer eine Last. Es gibt keinen Tag, an dem er sich nicht ins Zelt zurückwünscht. „Wir hatten dort zwei schöne Zimmer“, sagt er und fängt dabei ein Moskito mit der rechten Hand, „außerdem blieb uns eines erspart: die Miete.“ Lexius drückt zu, er lässt die zerquetschte Mücke fallen.

Seine Angst, wieder rausgeworfen zu werden mit den Kindern, wie früher, lässt ihn den Komfort nicht schätzen: die Privatheit, die paar Quadratmeter mehr Platz. Den schmalen Streifen vor der Tür, wo sie in Blechdosen Blumen ziehen und seine Kinder auf Steinen sitzend französische Grammatik lernen. Konjugationstabellen hoch und runter. Das Plumpsklo, das sie sich nur noch mit den direkten Nachbarn teilen müssen. Die Miete für ein Jahr ist bezahlt, 500 US-Dollar – die haben sie von der Hilfsorganisation des Schauspielers Sean Penn erhalten, der J/P Haitian Relief Organisation – und sechs Wochen später noch mal 110 Dollar Startgeld. Die gingen fürs Schulgeld und Lebensmittel drauf.

Die Kinofilme des US-Stars kennt die Familie nicht, aber dafür jedes Wort der Bibel. „Sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen“, zitiert Marie-Jolane Tibroueille aus Matthäus, die rote Lesebrille auf der Nase. Die 43-jährige Ehefrau sieht alt aus, der Kummer hat ihr Gesicht versteinert. Sie sucht Trost in der Bibel, hält es für gottgegeben, dass sie keinen Strom haben, weil der Verteilerkasten fehlt. Dass sie für Trinkwasser mit den Eimern eine halbe Stunde bis zur ihrer Kirche laufen müssen, der Eglise de Dieu Sabaoth. Im Bach direkt vor ihrem Haus badet gerade ein Schwein, es schert das Tier nicht, vom Strom der Plastikflaschen und schwimmenden Müllreste umspült zu werden. „Keiner räumt den Dreck weg“, beschwert sich Elison Lexius. Er selbst hat es auch nicht vor.